Der neue Flughafen Istanbul
Für die einen ist der Istanbul Airport ein Denkmal der erstarkten „neuen Türkei“, für die anderen ein katastrophales Prestigeprojekt Erdoğans. Ein Dossier über die sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen des Megaprojekts.
Der Start der Turkish Airlines-Maschine, die am 6. April um 14.30 Uhr vom neuen Istanbuler Flughafen in Richtung Ankara abhob, wurde im türkischen Staatsfernsehen live übertragen. Nachdem die Aufnahme des Regelbetriebs am Flughafen Istanbul mehrmals verschoben wurde, war es nun soweit: Mit dem ersten Flug in die Hauptstadt ist das Megaprojekt offiziell in Betrieb.
Der Flughafen Istanbul ist in jeder Hinsicht ein Projekt der Superlative. Für das gigantische Areal von 76,5 Millionen Quadratmetern wurden Millionen Bäume abgeholzt und Millionen Kubikmeter Beton gegossen. Bisher flossen 10,3 Milliarden Euro in das Megaprojekt. Beim Bau sind nach offiziellen Zahlen 55 Arbeiter bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen. Nach nur 42 Monaten wurde der Flughafen von Staatspräsident Erdoğan am 29. Oktober 2018, dem Tag der Republik, mit einer feierlichen Zeremonie eröffnet. Doch erst mit dem großen Umzug vom Atatürk-Flughafen auf das neue Gelände am 6. April ging der Flughafen Istanbul in den Regelbetrieb. Anfangs sollen hier 90 Millionen Passagier*innen pro Jahr fliegen. Mit sechs Landebahnen und einer Kapazität von 200 Millionen Fluggästen pro Jahr soll der Flughafen bis 2028 der größte der Welt werden.
Mit Megaprojekten wie dem Flughafen legitimiert Staatspräsident Erdoğan seine Macht und setzt sich ein Denkmal. „Wundert euch nicht, wenn ihr in Istanbul bald einen dritten Flughafen seht“, sagte er bereits im Oktober 2010, „zwei Flughäfen in Istanbul kommen der Nachfrage nicht nach.“ 2010 hatte die Welt noch ein anderes Bild vom türkischen Präsidenten, Politikwissenschaftler*innen sprachen vom „Türkischen Modell“, das liberale Demokratie und Islam miteinander vereine. Die Türkei wurde als Beispiel für andere Länder in der Region gehandelt. Eine der wichtigsten Legitimationsgrundlagen für die AKP war der wirtschaftliche Aufschwung in der Türkei.
Was internationale Beobachter*innen zu jenen Zeiten übersahen: Der ökonomische Aufstieg war kein nachhaltiger, er basierte auf Auslands- und Privatverschuldung, der Bausektor war dabei zentral, Megaprojekte wie die dritte Brücke oder der dritte Flughafen waren hier nur die Spitze des Eisbergs.
Wenn heute der neue Flughafen im Nordwesten von Istanbul seinen Betrieb aufnimmt, sehen die Dinge anders aus als 2010: Die Wirtschaft rutschte Ende 2018 in die Rezession, die Lira verliert unaufhaltsam an Wert, die Gesellschaft ist polarisiert und die AKP gerät zunehmend in eine politische Legitimationskrise. Wenige Tage zuvor hatte Erdoğans AKP bei den Kommunalwahlen die politischen und ökonomischen Zentren Ankara und Istanbul verloren.
In der öffentlichen Debatte um den Flughafen scheint es in der Türkei wie in Deutschland nur zwei Meinungen zu geben: Für die AKP und deren Anhänger*innen ist dieser Flughafen ein Symbol für wirtschaftlichen Aufschwung und Stärke. Das Prestigeprojekt repräsentiert die Erfolgsgeschichte der Regierungspartei und deren „neue Türkei“. Oppositionelle Stimmen kritisieren derweil das Wachstum um jeden Preis, die Folgen für die Umwelt, die Arbeitsbedingungen und die vielen tödlichen Unfälle auf der Baustelle.
Dabei bleiben viele Fragen offen. Weshalb sind beim Bau so viele Menschen gestorben? Wie wirkt sich das Projekt auf die Umwelt in der betroffenen Region aus? Wie konnte es in nur 42 Monaten fertiggestellt werden? Ist der Flughafen für seine potentiellen Nutzer praktikabel? Gab es an einem solchen Projekt tatsächlichen Bedarf?
Der Bau des Megaprojekts wurde ermöglicht durch ein Subunternehmer-System, das außer Kontrolle geraten ist und das unsichere Arbeitsbedingungen mit sich bringt. Darunter leiden nicht nur Arbeiter aus der Türkei, sondern auch Leiharbeiter aus dem globalen Süden. Selbst manche Leiharbeitsfirma ist daran zugrunde gegangen. Bauarbeiter, die gegen die Verhältnisse auf der Baustelle protestierten, wurden festgenommen, 61 von ihnen wird der Prozess gemacht. Zeitdruck und Konkurrenz unter den Auftragnehmern führen dazu, dass in der türkischen Baubranche die meisten tödlichen Unfälle geschehen. Für den neuen Flughafen erhielten auch deutsche Unternehmen lukrative Aufträge und werden in Zukunft am Flughafenbetrieb verdienen.
Mit jedem großen Infrastrukturprojekt wächst Istanbul weiter. Um den neuen Flughafen herum steigen die Immobilienpreise und die Stadt schluckt die Dörfer. Für den neuen Flughafen wurden Millionen Bäume gefällt und hunderttausende Tiere verloren ihren Lebensraum. Er liegt auf der Route der Zugvögel, die im Frühling über den Bosporus ziehen. Das gefährdet nicht nur die Störche, sondern stellt ein Risiko für die Flugsicherheit dar: Zusammenstöße von Vögeln und Flugzeugen können die Triebwerke beschädigen und zu Flugzeugunfällen führen.
Nicht nur vor ökologischen, auch vor den wirtschaftlichen Folgen warnen Expert*innen: Bei dem öffentlich-privaten Betreibermodell, mit dem der Flughafen finanziert wird, trägt die öffentliche Hand das Risiko. Falls die kalkulierten Passagierzahlen nicht erreicht werden, müssen die Steuerzahler*innen dafür aufkommen. Passagier*innen, die vom Flughafen Istanbul abfliegen, müssen sich derweil auf lange Wege gefasst machen: Bisher gibt es keine Bahnverbindung zum dezentralen Flughafen.
Mit Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz.gazete die Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft.
Die Übersicht
Folgen für die Arbeiter
Folgen für die Wirtschaft
Folgen für Umwelt und Gesellschaft

Lebensgefährliche Arbeitsbedingungen
Beim Bau des Flughafens kamen offiziell 55 Arbeiter ums Leben. Tezcan Acu, Bauarbeiter und Vorstandsmitglied der Bau-Gewerkschaft İnşaat-İş über tödliche Arbeitsunfälle und den Kampf der Arbeiter für ihre Rechte.
taz.gazete: Herr Acu, laut offiziellen Zahlen kamen beim Bau des dritten Flughafens in Istanbul 55 Arbeiter ums Leben. Wie kommt es zu so vielen tödlichen Arbeitsunfällen?
Tezcan Acu: Durch Stürze aus Höhen, herabfallende Baumaterialien und vor allem bei LKW-Unfällen gab es Tote. Unsere Gewerkschafter waren in den letzten Monaten wegen eines Problems mit den Lohnzahlungen am Flughafen. Als die Arbeiter dort hörten, dass meine Kollegen von der Gewerkschaft sind, kam etwas zur Sprache. An einem Schuttabladeplatz hat offenbar ein Laster, der zum Abladen kam, einen Kollegen verschüttet, der dort als Einweiser tätig war. Zwei Tage darauf kam seine Frau und fragte nach ihrem Mann. Einen Tag später fanden sie den Kollegen dann unter dem Schutt. Nach dem Tod eines anderen Kollegen bot ein Arbeitgebervertreter 10.000 Lira Schweigegeld an. Der neue Flughafen wurde im Eiltempo gebaut, um in 42 Monaten fertig zu sein. Offiziellen Angaben zufolge kamen Dutzende Arbeiter ums Leben, die inoffizielle Anzahl von Arbeitsmorden wird aber auf etliche Hundert beziffert (in der Türkei bezeichnen Gewerkschaften und NGOs tödliche Arbeitsunfälle als Arbeitsmorde, um die Verantwortung hervorzuheben, die Arbeitgeber für die Unfälle tragen, Anm.d.Red.).
Sind diese tödlichen Unfälle ein Problem, das nur den Flughafenbau betrifft?
Nein. Ich habe auf zahlreichen Baustellen von Gewerbekomplexen und Einkaufszentren gearbeitet. Auf jeder Mall-Baustelle, auf der ich tätig war, sind mindestens drei Kollegen umgekommen. Die Baubranche ist brutal, es geht um immense Renditen. Alle drängen in diesen Sektor, um Profit zu machen. Die Arbeiter werden ihrer Rechte beraubt, sie beschweren sich permanent, humane Arbeitsbedingungen gibt es dort nicht, es herrscht Rechtlosigkeit. Und je größer die Baustellen sind, desto mehr verlieren Gesundheit und Sicherheit unserer Arbeiterkollegen an Bedeutung. In der Baubranche geschehen die meisten Arbeitsmorde in der Türkei. Die Liste der Sektoren mit den meisten Verletzungen, bleibenden Behinderungen und Arbeitsunfähigkeit führt der Bergbau an, an zweiter Stelle folgt die Baubranche.
Was tun die Gewerkschaften, um tödliche Unfälle zu verhindern?
Wir stellen ständig Forderungen zur Arbeitssicherheit an das Arbeitsministerium. Wir haben beim Ministerium sogar einen Antrag darauf gestellt, dass die Zustände auf dem Flughafen kontrolliert werden. Darauf wurde gar nicht reagiert.
Gibt es in der Baubranche besondere Herausforderungen für Gewerkschafter?
Der Prozess gewerkschaftlicher Mobilisierung läuft hier völlig anders als in anderen Branchen. Nicht so wie in einer Fabrik. 80 Prozent der Bauarbeiter leben in Unterkünften auf der Großbaustelle. Das sind die auswärtigen Kollegen. Bei einer Fabrik kommen die Arbeiter aus der Region, in der sie arbeiten. Sie wohnen in der Gegend, da ist man eher solidarisch miteinander. Auf dem Bau ist es viel schwieriger, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Das Bildungsniveau hier ist sehr niedrig, auch das ist ein Nachteil für uns. Es herrschen nach wie vor feudale Beziehungen. Gruppenbildungen und Beziehungen unter Arbeitern, die aus dem selben Dorf oder derselben Stadt kommen, sind wichtig. Da ist zum Beispiel ein Subunternehmer, der holt Leute aus seinem Dorf, 20 bis 25 Leute. Weil sie wegen der gemeinsamen Herkunft angeheuert wurden, gibt es hier ein besonderes Loyalitätsempfinden. Deshalb wehren sie sich gegen viele Dinge nicht, sie sitzen zwischen den Stühlen. Solche Beziehungen sind ein enormes Hindernis für gewerkschaftliche Organisation. Gerade weil in diesem Sektor das Subunternehmertum besonders verbreitet ist. Auf dem Flughafen arbeiten 400 Subunternehmer.
Woher kommen die Arbeiter bei Megaprojekten wie dem Istanbuler Flughafen?
In der Türkei sind in der Baubranche drei Millionen Personen beschäftigt. Die meisten kommen aus Ost-, Südost- und Zentralanatolien und aus der Schwarzmeerregion. Istanbul ist das wirtschaftliche Zentrum der Türkei, in anderen Provinzen gibt es nicht sehr viele Beschäftigungsmöglichkeiten. In der Baubranche ist es nicht besonders schwierig, Arbeit zu finden. Jeder kann auf dem Bau arbeiten. Manche kommen für sechs Monate und arbeiten hier, die anderen sechs Monate bestellen sie ihr Feld in der Heimat. Die meisten sind sehr jung. Arbeit in der Fremde, das läuft über Landsleute, Freunde und Kollegen.
Warum ist es so schwierig, für Sicherheit auf Baustellen zu sorgen?
Als Anfänger auf der Baustelle wird man ein, zwei Tage in die Arbeitssicherheitsmaßnahmen eingewiesen und fängt danach gleich an zu arbeiten. Ist man das erste Mal auf einer Baustelle, ist die Gefahr von Arbeitsunfällen besonders hoch. Wir sehen es auch in den Berichten von ISIG (Arbeitsgesundheits- und -sicherheitskammer, Anm.d.Red.), die meisten jungen Kollegen, die einen Unfall haben, sind Anfänger. Arbeitssicherheit ist im Gesetz verankert, sie wird aber nicht umgesetzt. Und weil die Arbeiter nicht richtig verstehen, was Arbeitssicherheit ist und es auf der Gegenseite Defizite in Sachen Arbeitssicherheit gibt, entstehen bei hoher Arbeitsbelastung enorme Risiken.
Wie kam es im September 2018 dazu, dass die Arbeiter auf der Baustelle des Istanbuler Flughafens ihre Arbeit niedergelegt haben?
Damals waren insgesamt 38.000 Personen auf der Baustelle beschäftigt. Wir wissen, dass sich beinahe 10.000 Leute an dem Protest beteiligt haben. Die Gewerkschafter, die damals zum Flughafen gefahren sind, haben dort eine ungeheure Wut angetroffen. Die Kollegen von der Gewerkschaft beruhigten die Menge etwas, sagten, es gebe Wege, sich zu artikulieren. Dann wurden aus den Reihen der Arbeiter Vertreter gewählt. Die Geschäftsführung bot an, mit diesen Vertretern zu sprechen. Zwei Gespräche kamen zustande, da wurden die Forderungen vorgebracht. Bei den Gesprächen waren auch der Landrat, der Befehlshaber der Gendarmerie und die Bauleitung anwesend. Als die Arbeiter sahen, wie herablassend man sie behandelte, bekamen sie den Eindruck, die Gegenseite würde sich nicht an ihr Wort halten. Also brachen sie die Verhandlungen ab.
Was haben die Arbeiter bei diesen Gesprächen gefordert?
Sie legten eine Liste mit 17 Punkten vor. Es ging um völlig überfüllte Busse auf dem Weg zur Arbeit und Mängel beim Essen. Auf dem Gelände, auf dem etliche tausend Menschen arbeiten, fehlt zudem eine vernünftige Krankenstation. Ein großes Problem für die Arbeiter sind auch die hygienischen Zustände. In den Unterkünften gibt es Bettwanzen. Die meisten Kollegen haben deshalb Bisswunden, ihre Haut ist gereizt. Dazu kam, dass einige Arbeiter seit sechs Monaten keinen Lohn erhalten hatten.
Wie reagierte die Projektleitung auf die Forderungen?
Nach dem Protest gestanden sie einige Probleme ein. Sie setzten sich an den Verhandlungstisch und sagten: Ja, richtig, aber geht ihr jetzt mal wieder an die Arbeit und wir kümmern uns um die Lösung der Probleme. Die Arbeiter und ihre Vertretungen verlangten, dass die Leitung ein Protokoll unterschreibt, in dem steht, was genau unternommen wird, um die Probleme zu lösen. Diese Unterschrift verweigerte die Leitungsseite aber. Also verließen die Arbeiter die Verhandlungen. Nachts um drei stürmte die Gendarmerie dann die Unterkünfte. Im Akpınar-Camp wurden rund 1.200 Leute kurzzeitig festgenommen, über 500 Arbeiter wurden aufs Revier gebracht, gegen 31 wurde Haftbefehl erlassen.
Warum werden die Probleme der Arbeitssicherheit nicht gelöst?
Wir haben es mit dem Großkapital zu tun. Es geht um ein Milliarden-Euro-Projekt von fünf Baufirmen, die zu den größten des Landes gehören. Das Kapital lässt nicht zu, dass Arbeiter aufbegehren. Sie glauben, wenn sie den Arbeitern Zugeständnisse machen, dann fordern die morgen noch mehr. Alles, was die Arbeiter verlangen, ist in der Verfassung garantiert, auch das Streikrecht. Deshalb wurde im Fall des Flughafens auch die Verfassung mit Füßen getreten. Genau wie das Arbeitsrecht. Mit der nächtlichen Razzia sollten die Kollegen als Staatsfeinde diffamiert werden. Ihnen wurde vorgeworfen, sie würden versuchen, die Eröffnung des Flughafens zu verhindern. Das sind haltlose Beschuldigungen.
Am Flughafenprojekt sind auch ausländische Firmen beteiligt. Inwieweit tragen sie auch eine Verantwortung?
Das ausländische Kapital denkt so: „Wir machen hier unseren Job, man räumt uns bestimmte Vorteile ein, also verschließen wir die Augen. Verdienen wir unser Geld, nehmen wir unseren Profit mit und gehen wieder.“ Wir haben keine Beweise, um ausländischen Unternehmen direkt etwas vorzuwerfen. Aber eigentlich wissen wir, dass deutsche Unternehmen das Monopol auf Baumaschinen, Fahrzeuge, Förderbänder, Aufzüge und Rolltreppen am neuen Flughafen haben. Wer sie betreibt und aufbaut, ist dort in der Position eines Investoren. Auch nach der Eröffnung werden sie ihre Serviceleistungen fortsetzen und daraus ihren Profit ziehen. Inländische und ausländische Firmen haben hier ein gemeinsames Interesse. Und für dieses Interesse sind auf dieser Baustelle Menschen gestorben. Für jedes Hochhaus, jedes Einkaufszentrum, jeden Gewerbekomplex sterben Arbeiter. Und dann sind da die Angehörigen, die Gesellschaft, wir. Wir gehen daran zugrunde.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Bekannte tödliche Unfälle auf der Flughafenbaustelle
Laut der staatlichen Flughafen-Betriebsbehörde sind beim Bau des neuen Flughafens 55 Personen gestorben. Namen und Informationen über die Todesursache teilte die Behörde nicht mit. Folgende Liste basiert auf Recherchen der türkischen NGO „İSİG Meclisi“.
- Ramazan Yüce, gestorben am 2. September 2018. LKW-Fahrer. Todesursache: Wurde bei einem Unfall auf der Baustelle von Erde verschüttet.
- Kadir Kenger, aus Maraş, gestorben am 29. Juli 2018. Kranführer der Firma Sarılar. Todesursache: Nachdem ein Seil gerissen ist, wurde er in der Führerkabine von 30 Tonnen schwerem Baumaterial erfasst.
- Yaşar Sevinç, Leiharbeiter aus Hatay, gestorben am 21. Mai 2018. Todesursache: Explosion am Hafen des neuen Flughafens.
- Abit Aydın, aus Siirt, gestorben am 15. Mai 2018. Todesursache: Der Arbeiter stürzte im Terminalgebäude ab.
- Lokman Kazdal, aus Rize, gestorben am 12. April 2018, arbeitete für die Firma Metal Yapı. Todesursache: Nachdem das Kranseil gerissen ist, stürzte eine massive Glasplatte auf ihn.
- Serdar Kibar, gestorben am 9. April 2018. Todesursache: An der İhsaniye Metrostation des Flughafens löste sich beim Abladen Material von der Ladefläche und erfasste den LKW-Fahrer, der für die Doğuş-Gruppe arbeitete.
- Serkan Yaman, aus Batman, gestorben am 1. März 2018. Todesursache: Der Lastwagenfahrer der Firma Bayburt wurde zwischen zwei Fahrzeugen eingeklemmt.
- Gökhan Türkben, gestorben am 14. Februar 2018. Todesursache: Der Arbeiter der Firma Solit, die zur Firma MNG gehört, stürzte im Terminal 1 aus einer Höhe von vier Metern.
- Orhan Bingöl, aus Erzurum, gestorben am 22. Januar 2018. Todesursache: Ist in einen Aufzugschaft gefallen und knapp acht Meter in die Tiefe gestürzt. Der Unfall ereignete sich an seinem zweiten Arbeitstag. Seinen Angehörigen wurde ein Schweigegeld von 10.000 Lira angeboten.
- Kemal Koçak, aus Dersim, gestorben am 25. Dezember 2017. Todesursache: Er wurde von einem Bagger getroffen. Er registrierte Fahrzeuge, die auf die Baustelle fuhren.
- Mustafa Köksal, aus Ordu, gestorben am 19. Oktober 2017.
- Name unbekannt, gestorben am 8. Februar 2017. Todesursache: Ist im Terminalgebäude abgestürzt.
- Name unbekannt, gestorben am 29. Januar 2017. Todesursache: Bauarbeiter der Firma Volkan, wurde bei einem Sturz getötet.
- Ali Öztürk, gestorben am 29. Janauar 2017. Todesursache: Herzinfarkt auf der Baustelle.
- Taner Tosun, aus Kars, gestorben am 25. Januar 2017. Todesursache: Weil es bei Arbeitsbeginn am frühen Morgen noch dunkel war, stürzte er aus dem ersten Stock. Er hatte 40 Tage zuvor angefangen, auf der Baustelle zu arbeiten.
- Harun Kılıç, aus Giresun, gestorben am 24. Januar 2017. Todesursache: Arbeitete für die Firma WMK. Bei einer Pause während Bauarbeiten am Terminalgebäüde stürzte er aus dem vierten Stock vom Baugerüst und fiel 30 Meter tief. Er war erst eine Woche zuvor nach Istanbul gezogen, um auf der Flughafenbaustelle zu arbeiten.
- Ali Alak, gestorben am 27. Dezember 2016. Er arbeitete bei der Firma WMK.
- Şevki Şişik, gestorben am 17. November 2016. Todesursache: Verkehrsunfall. Der LKW-Fahrer starb, als er auf der Baustelle mit einem anderen LKW zusammenstieß.
- İsmet Ataca, aus Erzurum, gestorben am 23. Oktober 2016. Er arbeitete als Verkehrskontrolleur.
- Kadir Oruç, gestorben am 15. Oktober 2016. Todesursache: Er stürzte nachts um drei Uhr aus dem 3 Stock des Terminals 15 Meter in die Tiefe, weil die Beleuchtung unzureichend war und er keinen Sicherheitsgurt trug.
- İbrahim İçyer, aus Düziçi, gestorben am 24. September 2016. Todesursache: Der Einweiser wurde in seiner Nachtschicht von einem LKW überfahren.
- Name unbekannt, gestorben am 22. September 2016. Todesursache: Eine Eisenpalette stürzte auf den Arbeiter des Subunternehmers Altınsoy İnşaat.
- Cengiz Aydoğan, gestorben am 6. September 2016. Todesursache: Eine Eisenpalette stürzte auf den Arbeiter.
- Ammar Koç, aus Syrien, gestorben am 22. Februar 2016. Todesursache: Nachdem er seine Nachtschicht beendet hatte, stieß er mit seinem Motorrad mit einem Betonmixer zusammen.
- Nurettin Özdemir, aus Ömerli, gestorben am 23. Januar 2016. Todesursache: Der Lastwagenfahrer wurde beim Entladen zweier LKW erdrückt, als schwere Gegenstände aus der Fahrerkabine auf ihn stürzten.
- Turgut Demircan, gestorben am 12. März 2015. Todesursache: Der LKW-Fahrer des Subunternehmens Orkun İnşaat arbeitete 12 Stunden am Tag. An einer Straßenkreuzung kippte sein Lastwagen um und wurde 20 Meter über die Leitplanken geschleudert.
- Osman Ceylan, gestorben am 8. Juli 2014. Todesursache: Der Arbeiter stürzte auf der Baustelle mit seinem Arbeitsfahrzeug in einen Teich und ertrank.
Quelle: „İSİG Meclisi”, türkische NGO für Arbeitssicherheit, Stand 17. September 2018.

Protokolle von der Baustelle
Drei Menschen, drei Geschichten: Ein Arbeiter, der verhaftet wurde. Eine Subunternehmerin, die pleite ging. Ein nepalesischer Leiharbeiter, der nach getaner Arbeit ohne Geld auf dem Taksim-Platz ausgesetzt wurde.
Baran Kırgın, 27 Jahre alt, Bauarbeiter aus Siverek in der Provinz Urfa
Arbeitete vom 14. August bis zum 14. September 2018 auf der Baustelle des neuen Flughafens in Istanbul. Als Bodenlegermeister verdiente er 1.800 Lira (285 Euro) im Monat. Er musste unbezahlte Überstunden machen. Nach seiner Teilnahme an einer Protestveranstaltung im September 2018 wurde er verhaftet und verbrachte 90 Tage im Silivri-Gefängnis in Istanbul. Im Dezember kam er wieder auf freien Fuß. Da das Verfahren gegen ihn noch läuft und das Gericht eine Meldeauflage angeordnet hat, kann er nirgendwo arbeiten. Er ist zurzeit arbeitslos.
„Auf der Baustelle kommt es so oft zu Störungen im Arbeitsablauf, ich weiß gar nicht, wie sie den angekündigten Eröffnungstermin einhalten wollen. Gleich am ersten Tag haben wir gesehen, wie unmöglich die Zustände auf der Baustelle sind: Es gab Bettwanzen und Schimmel in den Betten. Wir bekamen Lebensmittel, die längst abgelaufen waren und an der Essensausgabe stand man ewig in der Warteschlange. Ich habe neun Todesfälle auf der Baustelle erlebt. Eine offizielle Statistik darüber wird nicht geführt. Viele Familien nehmen das Blutgeld der Flughafenbetreiber an und verzichten auf eine Anklage. Wenn in einem Monat neun Menschen gestorben sind, dann müssen in den vergangenen vier Jahren etwa 300 Arbeiter ums Leben gekommen sein.
Im September 2018 fingen die Arbeiter an, sich zu organisieren, um gegen die Arbeitsbedingungen zu protestieren. Subunternehmer geben ihre Arbeit an andere Subunternehmen weiter. Dadurch ist niemand mehr verantwortlich. Es war unmöglich, im Dialog mit den Unternehmen eine Lösung für die Probleme zu finden. Auch die Gewerkschaft hat Fehler gemacht. Seit Jahren gibt es Probleme auf der Baustelle, die Gewerkschaft hätte viel früher Proteste organisieren sollen. Schließlich haben am 14. September 2018 Gewerkschaft und Arbeiter gemeinsam eine Protestveranstaltung organisiert. Das war genau das, was wir angesichts all der Ungerechtigkeit erwartet hatten. Deshalb haben wir diejenigen unterstützt, die den Protest initiiert haben.
Am Abend der Protestkundgebung wurden die Türen unserer Unterkünfte mit Mauerbrechern zertrümmert. Später wurde in der Anklageschrift behauptet, wir hätten die Türen zerstört. Um mit meinen Kollegen zu kommunizieren hatte ich eine Whatsapp-Gruppe gegründet. Einen Kollegen aus dieser Gruppe haben sie festgenommen. Daraufhin haben sie mich angerufen und sind dann zu mir gekommen. Das Sicherheitspersonal der Flughafengesellschaft IGA hat mich in Handschellen abgeführt und in Gewahrsam genommen. In der provisorischen Fertigbau-Polizeistation auf dem Flughafengelände haben sie mich sechs Stunden lang herumstehen und warten lassen. Ich musste mir Beleidigungen anhören wie: „Seid ihr von der FETÖ („Fethullahistische Terrororganisation“, gemeint ist die Gülen-Bewegung, Anm.d.Red.) oder von der PKK geschickt worden?“. Sie beschuldigten mich sogar der Spionage.
Dann wurde ich auf die Polizeiwache gebracht. Einige meiner Kollegen wurden geschlagen. Mich haben sie sechs Mal verhört. Man hat mir das Recht verweigert, einen Anwalt hinzuzuziehen. Die Vorwürfe gegen mich lauten: Beschädigung von öffentlichem Eigentum, Widerstand gegen die Polizei und Beteiligung an Protesten unter Einsatz von Waffen und anderen Gegenständen. Im Protokoll heißt es über mich: „Die Person hat ihre linke Hand erhoben und den Slogan: ‚Mit Widerstand werden wir gewinnen!‘ gerufen.“ Beweismittel ist mein linker Arm. Und die Nachrichten, die ich in der Whatsapp-Gruppe verschickt habe: „Wenn ihr noch andere entschlossene Leute kennt, fügt sie der Gruppe hinzu. Wir werden ganz sicher gewinnen“, habe ich geschrieben. Es wurde direkt Haftbefehl gegen mich erlassen und ich wurde verhaftet, ohne dass man mich vorher dem Staatsanwalt vorgeführt hatte und ich vor dem Staatsanwalt aussagen konnte. Unter den verhafteten Arbeitern waren auch 18- bis 19-Jährige.
Meine Mitgefangenen in der Gefängniszelle verfolgten größtenteils die regierungstreuen Nachrichtenkanäle. In diesen Nachrichtensendungen wurde behauptet, wir würden den wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei verhindern. Meine Zellennachbarn, die das sahen, drohten mir: „Du verhinderst den Aufschwung der Türkei, du bist ein Terrorist.“ Ich war in Lebensgefahr. Um mich vor möglichen Angriffen zu schützen, habe ich ein Glas zerschlagen und mit einer Scherbe unterm Kopfkissen geschlafen.“
***
Merve Demirci*, 32 Jahre alt, Elektroingenieurin und Subunternehmerin aus Istanbul
Gründete mit einem Freund eine Firma und übernahm als Subunternehmerin den Auftrag, die Elektronik für den neuen Istanbuler Flughafen zu installieren. Demircis Firma arbeitete für das Subunternehmen EHA Enerji des Flughafenbetreibers IGA. Nachdem sie 20 Monate auf der Flughafenbaustelle gearbeitet hatte, wurde ihrer Firma kurz nach der Eröffnungsfeier am 29. Oktober 2018 der Auftrag gekündigt.
„Wir haben mit einem Team von 80 Leuten als Subunternehmen eines Subunternehmens auf der Baustelle des neuen Flughafens gearbeitet. Dort lief vieles nicht ganz legal. Zum Beispiel ließ man uns die Stromkabel nur oberflächlich verbinden, um die Arbeiten auf der Baustelle als beendet zu erklären und den neuen Flughafen möglichst bald in Betrieb nehmen zu können. Diese provisorisch verlegten Leitungen werden der Flughafenleitung in Zukunft noch große Schwierigkeiten bereiten.
Als wir anfingen, waren in den Arbeitsverträgen mit Subunternehmen keine Regelungen über Verpflegung, Unterkunft und Arbeitsweg aufgeführt. Wir forderten, dass die Punkte in den Vertrag aufgenommen werden, aber sie meinten nur: „In Ordnung, kriegt ihr.“ Nachdem aber der Vertrag mit uns - und auch mit anderen Firmen - gekündigt wurde und viele Unternehmen die Baustelle verlassen mussten, hat man unseren Firmen Rechnungen in Höhe von mehreren hunderttausend Lira vorgelegt und damit die Kosten für die versprochenen Leistungen zurückgefordert. Eine Firma musste sogar fast eine Million Lira zurückzahlen. Viele Subunternehmer sind pleitegegangen.
Von den Mitarbeitern, die für unsere Firma gearbeitet haben, ist keiner ums Leben gekommen. Aber es sind viele Arbeiter auf der Baustelle gestorben. Die Todesfälle wurden so schnell vertuscht und die Leichname der Arbeiter wurden so schnell abtransportiert, dass niemand überhaupt mitbekommen hat, wie die Arbeiter gestorben sind. Es war auch verboten, die toten Arbeiter zu fotografieren. Viele tödliche Arbeitsunfälle wurden auch dadurch vertuscht, dass man den Hinterbliebenen Schweigegeld zahlte.
Einige unserer Mitarbeiter wurden im September 2018 verhaftet, nachdem sie sich an den Protesten gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf dem Flughafen beteiligt hatten. Wir haben diese Arbeiter für die Protestveranstaltung freigestellt. Wir haben sogar einen Anwalt engagiert, der ihnen helfen sollte, ihre Rechte einzufordern.
Auch ich habe in einer Unterkunft auf dem Baustellengelände gewohnt, ich habe unter den gleichen schlechten Bedingungen gelebt. Deshalb habe ich den Protest und die Beschwerden der Arbeiter vom ersten Tag an befürwortet und habe nicht versucht, meine Mitarbeiter davon abzuhalten. Nach den Protesten legte mir die Geschäftsführung der Flughafengesellschaft IGA eine Liste vor und verlangte von mir, dass ich die Arbeiter entlasse, die an den Protesten teilgenommen hatten. Das habe ich nicht akzeptiert.
Am 29. Oktober mussten wir die Baustelle verlassen. Mit der Arbeit für den neuen Flughafen haben wir große Verluste gemacht. Die Flughafengesellschaft schuldet mir noch 100.000 Lira. Weil wir angeblich Baugerüste, Hebebühnen und Tragarme, die sie uns zur Verfügung gestellt hatten, nicht zurückgegeben haben sollen, haben sie die Zahlungen eingestellt. Dabei befindet sich das ganze Material auf dem Baustellengelände. Da ich die ausstehenden Geldbeträge nicht eintreiben kann, habe ich jetzt ungefähr 150.000 Lira Steuerschulden. Ich bin zurzeit arbeitslos. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist dermaßen schlecht, dass ich mir zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft Sorgen mache, keine Arbeit zu finden. Ich suche einen Job als Angestellte, finde aber nichts. Ich musste ein Zimmer in meiner Wohnung untervermieten. Die Firmen, die von der Baustelle suspendiert wurden, haben – einschließlich mir – keine Klage eingereicht. Wir haben es hier mit Firmen wie Cengiz İnşaat und Limak zu tun, die Erdoğan sehr nahestehen. Wen sollen wir da denn verklagen?”
*Aus Sicherheitsgründen möchte die Protokollantin anonym bleiben. Der Name wurde von der Redaktion geändert.
***
Murari Sigdel, 33 Jahre alt, Leiharbeiter aus Nepal
Arbeitete von April bis November 2018 für das Flughafenprojekt.
„Ein Mann namens Adem Özkan aus der Türkei kam in die Delta-Arbeitsvermittlungsagentur in Kathmandu und hat mit uns gesprochen. Er arbeitete für IGA und war Vorarbeiter auf der Baustelle des dritten Istanbuler Flughafens. Ich habe einen Arbeitsvertrag als Gerüstbauer für zwei Jahre unterschrieben. Über 600 Personen wurden ausgewählt. Nachdem ich in der Türkei angekommen war, gab man mir einen Baustellenausweis als LKW-Fahrer. Aber eigentlich habe ich während meiner Beschäftigung hauptsächlich Botendienste auf der Baustelle erledigt und geputzt. Kaum dass wir in Istanbul angekommen waren, haben sie uns den Arbeitsvertrag, den wir in Nepal unterschrieben hatten, abgenommen. Stattdessen haben sie uns einen Jahresvertrag gegeben. Sie haben uns am Flughafen abgeholt und uns in das Camp auf dem Baustellengelände gebracht, in dem wir untergebracht waren. Alles war wirklich sehr sauber, der Betrieb lief gut, das Essen war gut. Wir haben zu viert in einem Zimmer geschlafen. Es waren auch Türken und Kurden dort. Was das betrifft, habe ich keine Beschwerden.
Morgens um 7 Uhr war Arbeitsbeginn. Bis abends um 18.30 Uhr haben wir die Baustelle von Mörtel und kleinen Steinen gesäubert. Sechs Monate ging das so. Zu Beginn bekamen wir rund 615 Dollar im Monat. Nach zwei Monaten wurde der Lohn auf 650 Dollar erhöht, für 12 Stunden Arbeit pro Tag. Während der sechs Monate behielten sie unsere Pässe ein. An zwei Tagen im Monat hatten wir frei. An diesen Tagen erhielten wir die Erlaubnis, in die nächstgelegene Stadt Arnavutköy zu gehen. Im September 2018 hörten wir, dass es im Camp zu einem Aufstand gekommen war, die Menschen forderten ihre Rechte ein. Wir haben davon aber nichts mitbekommen, in unserem Camp gab es keine Zwischenfälle. Dann haben sie uns irgendwann im November auf einmal gesagt, dass sie auf die Zusammenarbeit mit uns nicht mehr angewiesen seien. 300 Personen haben sie gefeuert. Obwohl ich noch einen laufenden Arbeitsvertrag hatte, haben sie mich rausgeworfen – ohne den Rückflug zu bezahlen. Zusammen mit zwölf weiteren Personen haben sie mich in einen Bus gesteckt und zum Taksim-Platz gefahren.
Wir stiegen aus dem Bus und hatten keine Ahnung, was wir tun sollten. Wir hatten kein Geld für den Rückflug. Es blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Familien anzurufen und um Geld zu bitten. Drei Tage später sind wir nach Hause geflogen. Es war so beschämend. Wir haben versucht, Adem Özkan ausfindig zu machen, er kümmerte sich gar nicht darum. Wir haben die Delta-Arbeitsvermittlungsagentur gefragt, wie so etwas passieren kann. Aber sie haben sich überhaupt nicht dafür interessiert, was wir erzählten. „Ihr habt sicher irgendwas falsch gemacht. Wahrscheinlich habt ihr euch schlecht verhalten, deshalb haben sie euch gefeuert“, meinten sie. Ich kann auch keine Klage einreichen, ich komme aus einer armen Familie. Das kommt für mich nicht infrage. Sie haben uns schlecht behandelt, sie haben uns unsere Rechte genommen. Es war wirklich eine furchtbare Situation.“
Anmerkung der Redaktion: taz.gazete hat Adem Özkan erreicht. Er bestätigte, im Auftrag von IGA nach Nepal gefahren zu sein. Zu Murari Sigdals Vorwürfen, die Verträge von 12 nepalesischen Arbeitern seien ohne Grund beendet und die Arbeiter von der Baustelle in Bussen zum Taksim-Platz gefahren worden, sagt Özkan: „Sie haben ihr Geld bekommen, als ihre Arbeit beendet war. Wenn ihre Verträge beendet wurden, liegt das an ihnen. Sie sind vielleicht nicht zur Arbeit gekommen oder haben sich eines Vergehens schuldig gemacht.“
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş

Der Prozess gegen die Bauarbeiter
Tausende Bauarbeiter legten am neuen Istanbuler Flughafen die Arbeit nieder und protestierten gegen die Arbeitsbedingungen. Nun stehen viele von ihnen vor Gericht, weil sie von ihren Rechten Gebrauch gemacht haben.
Am neuen Istanbuler Flughafen haben am 14. September 2018 tausende Arbeiter die Arbeit niedergelegt. Sie protestierten damit gegen die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle: nicht bezahlte Löhne, Probleme beim Transport von den Unterkünften zur Baustelle, abgelaufenes Essen, schlechte medizinische Versorgung, Bettwanzen. Konkreter Auslöser des Aufbegehrens war der Unfall eines Transferbusses, bei dem mutmaßlich mehrere Arbeiter gestorben sind. Die Regierung wertete die Proteste als „geplante Provokation“. Die Polizei rückte mit Wasserwerfern an. Sie führte Razzien in den Unterkünften der Arbeiter durch. An nur einem Tag wurden mehr als 500 Arbeiter festgenommen, 31 wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft klagte schließlich 61 Arbeiter und Gewerkschafter an. In den Medien wurden sie als „Volksverräter“ bezeichnet, die die Fertigstellung des neuen Flughafens sabotierten.
5. Dezember 2018: Im fünften Stock des Gerichtsgebäudes in Gaziosmanpaşa wurde im hinteren Teil des Gerichtssaals ein Transparent angebracht. „Gerechtigkeit ist die Grundlage des Staates“, steht darauf. Hier werden an diesem Tag die 61 Arbeiter angeklagt, die nicht mehr bereit waren, die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle des dritten Istanbuler Flughafens hinzunehmen und dagegen protestierten. Die Arbeiter, die hier mitten im Saal sitzen und unruhig auf den Prozessbeginn warten, sind alle noch sehr jung. Nur wenige Angehörige der Arbeiter haben es zum Prozess geschafft. Die meisten von ihnen wohnen weit weg von Istanbul auf dem Land. Nicht alle können sich die lange Reise leisten. Diejenigen, deren Angehörige gekommen sind, drehen sich immer wieder nervös zu ihnen um.
Die Bauarbeiter Ramazan und Servet Gözel sind ebenso angeklagt wie ihr Cousin Cihan Sarıburak. Ihre Familien leben im osttürkischen Van, sie konnten nicht kommen. Doch ihre Tante Nazife Tuncay aus Istanbul ist zum Prozess erschienen, sie betet die ganze Verhandlung über für ihre Neffen. Der Vater von İlker Kurt, einem anderen angeklagten Arbeiter, hat es geschafft, einen Platz im Verhandlungssaal zu bekommen. İlkers Mutter Türkan dagegen wartet draußen in der Kälte. Sie erzählt, dass ihr Sohn vor lauter Aufregung schon seit einer Woche nicht mehr schlafen könne. Tezcan Acu, Mitglied der Bau-Gewerkschaft İnşaat İş, hat mit Mühe und Not freibekommen, um bei der Verhandlung dabei sein zu können. Acu ist heiser, weil er ständig irgendwem vom Kampf der Arbeiter am dritten Istanbuler Flughafen berichtet.
In der Anklageschrift steht, dass diese Menschen – die sich sechs Tage lang in einem kleinen Teich gewaschen haben, weil es auf der Baustelle kein Wasser gab, die mit eingeschaltetem Licht geschlafen haben, weil sie sonst wegen der Bettwanzen nicht hätten einschlafen können, die vier Mal hintereinander keinen Urlaub an Feiertagen bekommen und immer wieder keinen Lohn erhalten haben – sich „unter dem Vorwand der schlechten Arbeitsbedingungen“ versammelt hätten, um gegen ihre Arbeitgeber zu protestieren. Den Arbeitern wird unter anderem „Beschädigung öffentlichen Eigentums“ und „Anstiftung der Arbeiter zur Niederlegung ihrer Arbeit“ vorgeworfen.
Die Wut hat sich angestaut
Wenn die angeklagten Arbeiter auf diese Vorwürfe reagieren, dann klingen sie wie Arbeitskämpfer aus längst vergangenen Zeiten: „Wir sind keine Sklaven“, wird etwa ins Gerichtsprotokoll aufgenommen. „Soll ich Ihnen die Stiche von den Bettwanzen zeigen?“, fragt ein Arbeiter den Richter. Den Anwälten der Angeklagten sei verweigert worden, bei den Verhören ihrer Mandanten dabei zu sein, heißt es weiter, und Aussagen der Arbeiter seien unter Zwang der Gendarmerie aufgenommen worden. Den Gewerkschaftern der Bau-Gewerkschaften İnşaat İş und Dev Yapı-İş wird vorgeworfen, sich gewerkschaftlich engagiert zu haben. Die Männer werden gefragt, warum sie Arbeiterversammlungen einberufen und Whatsapp-Gruppen eingerichtet haben. Als seien Streik und Mobilisierung nicht durch internationale Abkommen garantiertes Verfassungsrecht.
Die Arbeiter berichten, dass es auf der Flughafenbaustelle seit 2013 immer wieder zu Protesten gekommen sei. Die Wut der Menschen habe sich aber langsam angestaut. Im September 2018, als Tausende von ihnen die Arbeit niederlegten, hat diese Wut ihren Höhepunkt erreicht und musste sich entladen. Die Geschäftsführung lehnte die Forderungen der Arbeiter ab. Sie sah es bereits als großes Wohlwollen ihrerseits an, dass sie sich nach den Protesten überhaupt mit Arbeitervertretern zusammengesetzt hat. Kadri Samsunlu, der CEO des Flughafenbetreibers İGA, sei bei diesem Treffen aufgetreten, als sei er unantastbar.
Die zwölfstündige Verhandlung endet damit, dass 30 der inhaftierten Arbeiter freigelassen werden, einer von ihnen muss wegen einer anderen Anklage in Untersuchungshaft bleiben. Die Menschen im Gerichtssaal fallen einander vor Erleichterung in die Arme. Laut richterlicher Anordnung müssen sich alle angeklagten 61 Arbeiter jedoch regelmäßig bei der Polizei melden und dürfen nicht ausreisen. Die Verhandlung wird auf März vertagt.
Noch nicht ganz frei
20. März 2019: Drei Monate später betreten Gewerkschafter Tezcan Acu und die angeklagten Arbeiter das Gerichtsgebäude in Gaziosmanpaşa erneut. Laut Acu haben sich die Arbeitsbedingungen in der Zwischenzeit kein bisschen verbessert. Sie seien sogar noch schlimmer geworden, weil der Eröffnungstermin immer näher rückte, sagt er vor der Verhandlung. „Es gab einen Unfall mit einem Tanklaster, dabei sollen zwei Personen getötet worden sein.“ Auf der Baustelle seien neue Schlafplätze eingerichtet worden. Das sei aber nichts weiter als eine Theaterkulisse. Es gehe darum, Besucher der Baustelle zu täuschen. Viele Arbeiter seien unrechtmäßig gekündigt worden. Nachdem ein erster Teil des Flughafens schon im Oktober geöffnet hat, sei die Zahl der Arbeiter nun auf 10.000 zurückgegangen. In Höchstzeiten arbeiteten hier über 30.000 Menschen.
Bis auf einen wurden zwar alle Arbeiter freigelassen, doch mit Freiheit hat das, was sie vor der zweiten Verhandlung erzählen, nicht viel zu tun. Aufgrund der gerichtlich angeordneten Meldepflicht müssen manche von ihnen einmal, andere sogar dreimal in der Woche im Polizeirevier erscheinen. Die Bauarbeiter, deren Arbeitgeber ihnen 7-Tage-Wochen abverlangen, verlieren also entweder ihren Job oder sie kriegen noch mehr Ärger mit der Justiz. Zudem dürfen sie für die Dauer des Prozesses nicht aus der Türkei ausreisen. Manch einer konnte deshalb eine Arbeitsstelle, die er in Russland, Katar oder Marokko gefunden hatte, nicht antreten. Die türkische Wirtschaft stagniert und den Bausektor trifft das besonders hart. In der Türkei finden Bauarbeiter deshalb heute nicht so schnell eine Arbeit wie noch vor ein paar Jahren. Baran Kırgın sagt deshalb: „Erst haben sie uns festgenommen, jetzt versuchen sie uns mit Arbeitslosigkeit zu bestrafen.“ Da er keine Arbeit auf dem Bau findet, versucht er sich mit Halbtagsschichten in Cafés über Wasser zu halten.
Die angeklagten Gewerkschafter Yunus Özgür und Deniz Gider erzählen, dass sie nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft im Dezember einen Online-Fernsehsender gegründet haben. Der Name des Senders ist „Şantiye TV“, also „TV Baustelle“. Die Idee vom eigenen Sender kam ihnen im Gefängnis, weil Mainstream-Medien so wenig über die Arbeitsbedingungen und die Todesfälle auf den Baustellen berichteten. Auf Şantiye TV laufen inzwischen fünf Sendungen pro Woche.
Am Ende der zweiten Verhandlung macht der Richter den Arbeitern ein Angebot: Wenn sie ihre Schuld eingestehen und innerhalb von fünf Jahren nicht noch einmal eine „Straftat“ begehen, werde ihr Urteil aus der Akte gelöscht. Viele der angeklagten Arbeiter wissen nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Letztendlich bleiben die Arbeiter bei ihrer Aussage: Sie weisen die Vorwürfe zurück. Der Richter versucht sein Angebot noch einmal zu erklären: „Also, wenn du dich fünf Jahre lang ordentlich benommen hast, wenn du dich nicht an irgendetwas beteiligt hast, dann wird der Eintrag in deiner Akte gelöscht.“ Die Arbeiter bleiben aber dabei. Sie fordern Freispruch.
Der Richter vertagt den Prozess ein weiteres Mal. Aber er hebt die Meldepflicht auf. Die Angeklagten freuen sich darüber, als ob sie freigesprochen worden wären. Die nächste Verhandlung: 26. Juni 2019.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş

Die politische Ökonomie des Istanbul Airport
Megaprojekte in der Türkei werden mit öffentlich-privaten Betreibermodellen umgesetzt, auch der neue Istanbuler Flughafen. Dieses Modell gewährt privaten Unternehmen finanzielle Sicherheiten – auf Kosten der Steuerzahler.
Der neue Istanbuler Flughafen wurde nicht nur gebaut, weil er politisch gewünscht war. Tatsächlich dominierte über die politischen Lager hinweg die Wahrnehmung, dass Istanbul einen weiteren Flughafen braucht, da der Atatürk-Flughafen überlastet war. Zwar wurde dort die 2016 auf 80 Millionen erhöhte Passagierkapazität nicht ausgeschöpft; im Jahr 2018 nutzten 64 Millionen Fluggäste den Atatürk-Flughafen. Dennoch berichteten Flughafen-Mitarbeiter*innen immer wieder, dass der Flughafen die Belastung nicht mehr stemmen könne.
Der internationale Luftfahrtverband IATA sah 2017 voraus, dass die Türkei in puncto Passagierzahlen bis 2036 Länder wie Frankreich und Italien überholen, somit zu den zehn größten nationalen Märkten im Luftverkehr aufschließen und in Zukunft 200 Millionen Fluggäste befördern würde. Expert*innen hielten einen neuen Flughafen in Istanbul nicht nur für notwendig, sondern auch für eine gute Gelegenheit, um die Wirtschaft anzukurbeln. Der neue Flughafen und die dazugehörende kleine Stadt sollten der türkischen Wirtschaft bis 2025 ein Wachstum von rund vier Prozent bescheren – so das „wahrscheinlichste Szenario“ einer Studie des Thinktanks EDAM aus dem Jahr 2016.
Diese Rechnungen wurden allerdings für eine andere Türkei gemacht. Im letzten Quartal 2018 schrumpfte die türkische Wirtschaft und die türkische Lira verlor unaufhaltsam an Wert. Dadurch wurde die Zahlung von Kreditzinsen erheblich erschwert. Auch die Baubranche steckt in der Rezession. Unter diesen Bedingungen erscheint es unwahrscheinlich, dass das alte Kalkül aufgeht. Auf Nachfrage von taz.gazete, ob der Bericht von 2016 noch gültig sei, reagierte EDAM nicht.
Über den neuen Istanbuler Flughafen kursieren derweil pessimistische Szenarien: Ein Bericht des Zentrums für ökonomische und soziale Studien der Bahçeşehir-Universität aus dem Jahr 2013 geht davon aus, dass mit dem Vertrag, der für den Flughafenbetrieb abgeschlossen wurde, in den kommenden 25 Jahren nur schwerlich Profit eingebracht werden könne.
Wer baut den Flughafen mit welchem Geld?
Mit mehr als 26 Milliarden Euro ist das Flughafenprojekt die größte öffentliche Ausschreibung in der Geschichte der Republik Türkei. Den Zuschlag für den Bau erhielten fünf Bauunternehmen, die unter der AKP die meisten öffentlichen Ausschreibungen bekommen haben: Cengiz, Kolin, Kalyon, Limak und Mapa. Auch das deutsche Unternehmen Fraport interessierte sich für das Projekt Istanbul Airport – am 3. Mai 2013 war der Betreiber des Frankfurter Flughafens unter den Mitbietern.
Das Konsortium Fraport-TAV bot zunächst 20 Milliarden Euro, erhöhte danach aber nicht mehr. Jetzt, wenige Tage vor der Eröffnung des Megaprojekts, sagte ein Sprecher von Fraport taz.gazete, man sei weder froh noch traurig darüber, die Ausschreibung nicht gewonnen zu haben: „Wir haben einen Businessplan. Die Ausschreibung haben wir nicht bekommen, weil sie über unsere Kalkulationen hinausging. Wir wünschen dem Projekt und seinen Betreibern viel Erfolg.“
Die fünf türkischen Unternehmen, die mit der staatlichen Flughafen-Betriebsbehörde DHMI einen Vertrag für den Bau des dritten Istanbuler Flughafens unterschrieben haben, gründeten 2013 das Konsortium IGA. Dieses übernimmt die gesamten Kosten für den Bau und soll den Flughafen 25 Jahre lang betreiben. Zur Abmachung gehört, dass IGA den gesamten Gewinn in dieser Zeit einstreicht und im Gegenzug über eine Milliarde Euro jährliche Pachtgebühr bezahlt.
Den ursprünglichen Berechnungen zufolge sollte für den neuen Flughafen, wie Erdoğan mehrfach betonte, „kein Cent aus der Staatskasse“ fließen. Die Einzelheiten des Vertrags deuten allerdings auf etwas anderes hin. Denn den Löwenanteil des Investitionskredits für IGA - über 6 Milliarden Euro – brachten staatliche Banken auf. Zudem muss die staatliche Flughafen-Betriebsbehörde DHMI einspringen, falls das IGA-Konsortium diesen Kredit nicht zurückzahlen kann. Auch garantierte die DHMI dem Konsortium für die ersten 13 der vereinbarten 25 Betriebsjahre ein jährliches Passagieraufkommen, das Einnahmen von 6,3 Milliarden Euro entspricht. Auf Passagierzahlen umgerechnet sind das 90 Millionen Fluggäste pro Jahr. Wird dieses Volumen nicht erfüllt, muss der Staat für die finanziellen Verluste des IGA-Konsortiums aufkommen.
Bei anderen Projekten, die mit diesem Betreibermodell umgesetzt wurden, hat die Staatskasse bereits rote Zahlen geschrieben – und dabei private Unternehmen mit dem Geld der Steuerzahler versorgt. Laut Verkehrsminister Mehmet Cahit Turhan zahlte der Staat für die dritte Bosporusbrücke Yavuz-Sultan-Selim und die Osman-Gazi-Brücke über den Golf von Izmit allein im vergangenen Jahr 278,5 Millionen Euro an Privatunternehmen.
Zugleich wird die Staatskasse dem Flughafenbetreiber TAV Entschädigung zahlen, mit dem vertraglich vereinbart war, den Atatürk-Flughafen bis 2021 zu betreiben. Für den Schaden, der dadurch entsteht, dass der Atatürk-Flughafen für kommerzielle Flüge geschlossen wird, werden die Steuerzahler*innen aufkommen
Die vertragliche Konstruktion für den neuen Flughafen ist also in jedem Fall ein wasserdichtes und auch lukratives Arrangement für die fünf großen Bauunternehmen, die das IGA-Konsortium bilden.
Finanzielles Risiko für die Steuerzahler
Der CHP-Abgeordnete Aykut Erdoğdu geht gar so weit, dass er die Ausschreibung als die „zweitgrößte Korruptionsaffäre in der Geschichte der Türkei“ bezeichnet. Er behauptet, für die Bevölkerung sei bereits ein Schaden von 2,5 Milliarden Euro entstanden, weil nach der Ausschreibung die Menge des benötigten Betons verringert worden sei. Die im Vertrag festgelegten Kosten für das Baumaterial seien jedoch nicht entsprechend angepasst worden. Verkehrs- und Infrastrukturminister Mehmet Cahit Turhan erklärte wiederum am 23. März 2019, die Pacht, die IGA jährlich zahlt, sei inzwischen auf 822 Millionen Euro gefallen. Nachdem die Einnahmeprognosen hinter den Erwartungen zurückblieben, änderten sich auch die Konditionen des Vertrags.
Die Aufnahme des Regelbetriebs am neuen Istanbuler Flughafen wurde seit Oktober 2018 mehrmals verschoben. Und bis März 2019 wurde der Flughafen bisher nur von 400.000 Passagieren genutzt. Die Kapazität von 90 Millionen Passagieren pro Jahr scheint weit entfernt und kaum zu erreichen. 2019 wird wohl ein teures Jahr für den Steuerzahler in der Türkei werden.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Der Blick des Ingenieurs
Ökçün Gülmez hat das Megaprojekt maßgeblich mitgestaltet. Danach kehrte er der Türkei den Rücken – und ließ einen gigantischen Flughafen zurück.
Beim Bau des neuen Istanbuler Flughafens gehörte der Ingenieur Ökçün Gülmez zum Kreis der Entscheider. In der Hierarchie des Flughafenbetreibers IGA gab es zwischen dem CEO und Ingenieur Gülmez nur eine einzige Position. „Wenn man einmal auf dem Flughafen Istanbul gearbeitet hat, kommt einem das Leben danach wie in Zeitlupe vor“, sagt er. Das Arbeitstempo auf der Baustelle und in den Planungsbüros sei enorm gewesen. Als Koordinationsdirektor der Designabteilung beim Flughafen-Konsortium IGA war er für technische Fragen und die Gestaltung zuständig. Wer das Megaprojekt verstehen will, muss mit Ökçün Gülmez sprechen.
Dreieinhalb Jahre hat Gülmez für den neuen Flughafen gearbeitet. Seinen Auftrag hat er damit erfüllt. Im Juni 2018, sechs Tage nachdem Recep Tayyip Erdoğan die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte und das Präsidialsystem in der Türkei eingeführt wurde, wanderte er nach Deutschland aus. Zunächst arbeitete er in einer Baufirma in Berlin, dann zog er nach Baden-Baden. Dort nahm er sich der Restaurierung des Hôtel de l’Europe an, das einst vom russischen Hochadel und russischen Literaten wie Dostojewski frequentiert wurde. Seine erste Antwort auf die Frage, warum er nach Deutschland gekommen ist, fällt knapp aus: „säkulare Migration“.
Während er in seinem Wagen an Weinbergen vorbei in die Stuttgarter Innenstadt fährt, spricht Gülmez über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei, seinen alten Job als Ingenieur und seine Entscheidung, nach Deutschland zu ziehen. Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, wie unterschiedlich die Lebensqualität in beiden Ländern sei. In Istanbul könne man inzwischen nicht mehr leben, findet er. Nach Deutschland sei er in erster Linie gezogen, um seinen beiden Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Er vermisst das Istanbul seiner Kindheit, als die Stadt noch längst nicht so überfüllt war wie heute. Er erinnert sich gerne zurück an seine Jugend in der Metropole, an die neunziger Jahre, die Kneipen im Viertel Asmalımescit in Beyoğlu.
Dabei sind es Megaprojekte wie der neue Flughafen, die Istanbul noch größer und noch weniger lebenswert machen – so ein Einwand der Kritiker des Flughafens. „Ich habe auch Kritik einstecken müssen. Sogar einige meiner Freunde haben mich gefragt, warum ich dort arbeite“, sagt Gülmez. Für seine Karriere war es ein wichtiger Schritt, für das Projekt zu arbeiten. „Viele, denen ich erzähle, dass ich dort gearbeitet habe, zeigen großen Respekt“, sagt er. Als Held sehe er sich aber nicht.
„Der Präsident weiß Bescheid”
Am 2. Mai 2015 fing Ökçün Gülmez an, bei IGA zu arbeiten. Zwei Monate später wurde das Fundament für den Flughafen gegossen. 95 Prozent seiner Arbeitszeit verbrachte Gülmez in einem Großraumbüro mit 120 Kollegen. Er arbeitete zehn Stunden am Tag, vier Stunden vergingen täglich auf dem Arbeits- und Heimweg. Ein Arbeitstag sei ihm vorgekommen wie drei. Einige seiner Kollegen kannte er aus früheren Projekten, das Team bestand aus internationalen Fachleuten, den besten weltweit, erzählt er.
Das IGA-Konsortium setzt sich aus den fünf Firmen zusammen, die während der Regierungszeit der AKP die meisten öffentlichen Aufträge erhalten haben – Gesamtwert der Zuschläge: 125 Milliarden Euro. Diese Nähe der Firmen zur Regierung führte gemeinsam mit der gesellschaftlichen Polarisierung in der Türkei dazu, dass es auch zum Flughafenprojekt in der öffentlichen Debatte nur zwei Meinungen gab. Einig waren sich alle nur in einem: Flughafen = Erdoğan.
Gülmez ist es unangenehm, dass das Projekt – das schließlich auch sein Projekt ist – als „Erdoğan-Projekt“ gilt. Er findet das auch gegenüber den zehntausenden Arbeitern, die den Flughafen letztendlich erbaut haben, unfair. Aber er denkt auch, dass an dieser Sichtweise etwas Wahres dran ist. Zum Beispiel seien Angestellte wegen politischer Äußerungen in den sozialen Medien gekündigt worden. Bevor er seinen Job angefangen hat, habe er seine Social Media-Beiträge aus der Zeit der Gezi-Proteste 2013 gelöscht.
Weil das Projekt dermaßen politisch aufgeladen wurde, hatten beim Flughafenbau selbst alltägliche Angelegenheiten schnell eine politische Dimension. „Jeder wollte irgendetwas von einem“, erinnert sich Gülmez und zählt die vielen Forderungen auf, mit denen er Tag für Tag konfrontiert wurde. Höhere Polizeibeamte verlangten, dass ihre Dienststelle in der Nähe einer Teestube liegt, die Hunde des Drogendezernats mussten getrennt von den Hunden der Sicherheitsbeamten untergebracht werden, es gab spezielle Forderungen bezüglich des Gasthauses, das für den Präsidenten gebaut wurde. Während Gülmez erzählt, wird die Liste immer länger. „Jeder versuchte, seine Anliegen mit Verweis auf den Staatspräsidenten zu rechtfertigen. Man hätte die Dinge professioneller angehen müssen, eigentlich hätte sich niemand einmischen dürfen.“ Wenn jemand mit einem besonders umständlichen Anliegen zu ihm kam, dann habe aber auch er wie die anderen auf den Präsidenten verwiesen, sagt Gülmez und lacht: „Der Staatspräsident weiß Bescheid, er ist dagegen.“
Der Preis für den Flughafen
Trotzdem glaubt Ökçün Gülmez, dass hinter der Vision des weltweit größten Flughafens mehr steckt als nur der Ehrgeiz des Präsidenten. Nämlich eine einfache ökonomische Rechnung: Das Finanzzentrum der Welt verschiebe sich Richtung Osten. Um zu verdeutlichen, was er meint, zeichnet er in einem Café in der Stuttgarter Innenstadt die sich verändernden globalen Kapitalströme auf ein Blatt Papier. Den Stift setzt er bei London an; der Pfeil, den er zieht, führt in den Nahen Osten. Damit verlagerten sich auch Schwerpunkte des Luftverkehrs gen Osten. Mit dieser Einschätzung ist er nicht allein.
Das IGA-Konsortium hat für ihr Bauprojekt bei unabhängigen Denkfabriken Analysen über die ökonomischen Folgen des Flughafens in Auftrag gegeben, dabei auch mit ausländischen Beratungsfirmen wie Mott MacDonald zusammengearbeitet.
Für den neuen Flughafen sei die halbstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines der Motor des Wachstums. „Auf dem Atatürk-Flughafen finden die Flugzeuge keinen Platz mehr zum Starten und Landen. Ende 2017 hat der Flughafen acht neue Fluggastbrücken gekauft. Warum investiert ein Flughafen, der in einem Jahr schließen wird? Weil es Bedarf gibt“, erklärt Gülmez.
Doch der neue Flughafen hat seinen Preis: Offizielle Zahlen zu den Todesfällen von Arbeitern auf der Baustelle stammen aus einem Bericht vom Januar, den die damalige Vorsitzende der staatlichen Flughafen-Betriebsbehörde, Funda Ocak, der Verfassungskommission vorgelegt hat. Demnach sind bis heute 55 Arbeiter auf der Flughafenbaustelle ums Leben gekommen. Im Februar trat Funda Ocak ohne Begründung von ihrem Amt zurück.
Es gab Medienberichte darüber, dass auf dem Istanbuler Flughafen bis zu 400 Arbeiter gestorben seien. Immer wieder wurde behauptet, die Todesfälle seien durch die Zahlung von Schweigegeld an die Angehörigen vertuscht worden. Diese Anschuldigungen konnten bislang nicht bewiesen werden.
Nicht erst seit dem Grubenunglück von Soma in der Westtürkei im Jahr 2014, bei dem nach offiziellen Angaben 301 Personen ums Leben kamen, haben unsichere Arbeitsbedingungen und tödliche Arbeitsunfälle einen wichtigen Platz im kollektiven Gedächtnis der Türkei. Immer wieder kommt es auf Großbaustellen zu tödlichen Arbeitsunfällen. Bei einem Brand im Jahr 2012 wurden auf der Baustelle des Einkaufszentrums Marmara Park in Istanbul, das mit deutschem Kapital gebaut wurde, elf Arbeiter getötet. Es ist ein seltsamer Zufall, dass Gülmez auch für dieses Projekt gearbeitet hat.
Gülmez bedauert den Tod der Arbeiter. In seiner Abteilung hätten sie jede Woche zweieinhalb Stunden über Arbeitssicherheit diskutiert. Trotzdem hält er tödliche Unfälle bei einem Megaprojekt dieser Größenordnung für unvermeidbar. Es gebe eine weltweite Statistik darüber, wie viele Todesfälle auf Baustellen zu erwarten sind: „ein Toter je 100.000 Quadratmeter.“
Er verweist auf Daten der Internationalen Organisation für Arbeit, nach denen es auf der Baustelle des neuen Flughafens mit einer Fläche von 3,5 Millionen Quadratmetern 35 tödliche Arbeitsunfälle hätte geben müssen. Nach dieser Rechnung seien 55 Todesfälle mehr als normal, sagt er.
Warum sind so viele Menschen gestorben? Gülmez sagt, ein Grund dafür sei die extrem kurze Zeit, in der der Flughafen gebaut wurde. Der neue Istanbuler Flughafen wurde am 29. Oktober 2018, nur 42 Monate nach Baubeginn eröffnet – zumindest teilweise. Die Diskussion darüber, ob es sich dabei nun um eine echte Eröffnung handelt oder nicht, hält Gülmez für überflüssig. „Wenn das erste Flugzeug abhebt, ist der Flughafen eröffnet.“
Ein Projekt außer Kontrolle
Doch anders als oft behauptet wird, glaubt Gülmez nicht, dass der Flughafen so schnell gebaut werden musste, weil es politischen Druck gab. Der wahre Grund für die Geschwindigkeit sei die Tatsache, dass Flughäfen eine bestimmte Lebensdauer hätten. Wenn ein Flughafen später als geplant eröffne, könne er unter Umständen den kalkulierten und erforderlichen Passagierzahlen nicht mehr nachkommen. Ökonomisch gesehen wäre ein solcher Flughafen dann ein Verlustgeschäft.
Den Angaben von Turkish Airlines zufolge sind seit der Eröffnung des neuen Istanbuler Flughafens Ende Oktober nur 400.000 Passagiere von dort geflogen. Dabei war für das Jahr 2019 geplant, dass rund 90 Millionen Fluggäste von dem Flughafen starten sollen. Bis 2028 sollen es jährlich 200 Millionen Passagiere werden. Ist der Istanbuler Flughafen etwa auch eine „Totgeburt“? „Nein“, sagt Gülmez. Der Flughafen Berlin Brandenburg (BER), der nach 13 Jahren Bauarbeiten immer noch nicht in Betrieb ist, werde dagegen eine „Totgeburt“ sein.
Wie konnte der Istanbuler Flughafen, der fünfmal so groß ist wie der BER, in nur einem Drittel der Zeit gebaut werden? Gülmez‘ Antwort auf diese Frage ist zugleich eine der Ursachen, die er für die tödlichen Arbeitsunfälle nennt: das unkontrollierte System der Subunternehmen. Es sei nicht gelungen, dieser undurchsichtigen Organisation Herr zu werden: „Das Schlimmste ist das Subunternehmersystem. Es ist so schwer, die alle zu überprüfen. Das macht die Situation unkontrollierbar.“
Dabei war es nicht damit getan, dass das IGA-Konsortium einem Subunternehmen einen Auftrag weiterreichte. Gülmez beschreibt das System folgendermaßen: „Eine Firma erhält den Auftrag für den Fenstereinbau für 1.000 Lira, eine zweite Firma übernimmt ihn für 900, eine weitere für 800, wieder eine weitere für 700 und so weiter, bis schließlich die fünfte Firma den Auftrag für den halben Preis erledigt. Am Ende setzt ein zehnköpfiger Familienbetrieb die Fenster ein. Es gab 800 bis 900 solcher Firmen.“
Das führt dazu, dass letztendlich ungelernte Arbeiter für einen Billiglohn arbeiten. Gülmez glaubt, dass das Problem nur gelöst werden kann, wenn man das Subunternehmersystem an eine staatliche Institution bindet. Dass Hunderte von Subunternehmen miteinander konkurrieren, den Preis somit drücken, sei schließlich ein Grund für die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne der Bauarbeiter. „So etwas gibt es hier in Deutschland nicht“, sagt Gülmez. „Würden Sie einen 250.000-Euro-Job für 200.000 Euro erledigen?” Kein Mensch würde dazu ja sagen, das sei der größte Unterschied zwischen Deutschland und der Türkei, sagt er.
Unkontrolliertes Subunternehmertum bedeutet Chaos. Gülmez gibt zu, dass es Momente gab, in denen auch er von der Größe der Baustelle überwältigt war. In der Vergangenheit hat Gülmez für ein Einkaufszentrum in Litauen und für den Flughafen in der turkmenischen Hauptstadt Aşkabat gearbeitet. Projekte, die sich für Gülmez nicht mit dem Flughafen Istanbul vergleichen lassen. Bauprojekte dieser Größenordnung entwickelten mit der Zeit eine eigene Dynamik und einige Faktoren gerieten dann außer Kontrolle, sagt Gülmez. Als ob der Fortschritt nun einmal bestimmte Opfer fordere.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
Die deutsche Wirtschaft in der Türkei
7.200 deutsche Firmen produzieren in der Türkei, mehr als in jedem anderen Land außerhalb Deutschlands. Die Geschäftsbeziehungen reichen zurück bis ins Osmanische Reich. Auch beim Bau des neuen Flughafens haben sich deutsche Firmen lukrative Aufträge geholt.
Die deutsch-türkischen Beziehungen, und mit ihnen auch die Aktivitäten deutscher Firmen in der Türkei, reichen weit in die Vergangenheit zurück. Als sie im 19. Jahrhundert begannen, war es noch Preußen, das Kontakt zum Osmanischen Reich aufnahm. Wie so oft in den Beziehungen zweier Staaten fing alles mit dem Militär an. Das deutsche Militär kam jedoch nicht als Eroberer, sondern als Berater ins Osmanische Reich. Der wichtigste von ihnen war der damalige Major Freiherr Colmar von der Goltz, der 1883 erstmals als Vertreter des preußischen Militärs nach Konstantinopel kam und im Ersten Weltkrieg als Generalfeldmarschall das letzte Mal an den Bosporus zurückkehrte. Wilhelm Freiherr von der Goltz gründete die erste Kriegsakademie des Osmanischen Reiches in Konstantinopel und wurde damit zum entscheidenden Wegbereiter deutschen Einflusses im Orient. Vor allem aber wurde er zum erfolgreichen Lobbyisten der deutschen Waffenindustrie.
Krupp verdankte ihm viele lukrative Aufträge. Von der Goltz sorgte dafür, dass die deutsche Waffenschmiede das osmanische Heer mit Geschützen und Artilleriesystemen ausrüsten durfte, die dem Konzern damals 70 Millionen Goldmark einbrachten. Auch für einen anderen Waffenfabrikanten wurde von der Goltz zum Türöffner. Er setzte durch, dass die Firma Mauser mit ihrem Standardgewehr zum Hauptausrüster der osmanischen Armee wurde. Damit war ein Anfang gemacht und der Weg frei für andere Großprojekte.
Als der Bankier und Mauser-Vertreter Alfred Kaulla 1890 an den Bosporus kam, wurde er angefragt, ob er ein Bankenkonsortium auf die Beine stellen könnte, das in der Lage wäre, den Bau einer Eisenbahn von Konstantinopel nach Konya zu finanzieren. Kaulla holte die Deutsche Bank ins Boot. Der damalige Deutsche Bank-Vorstand Georg von Siemens willigte ein und die erste anatolische Eisenbahn wurde innerhalb von sechs Jahren nach Konya und Ankara gebaut. Der Sultan war zufrieden und schlug daraufhin ein Projekt vor, das alle bisherigen Dimensionen sprengte: eine Bahn bis nach Bagdad und Basra, die die mesopotamischen und arabischen Provinzen mit der Hauptstadt verbinden und gleichzeitig über den Balkan bis nach Berlin führen sollte.
Das größte Projekt im Osmanischen Reich
Der deutsche Kaiser Wilhelm II. war begeistert und drängte die Deutsche Bank einzusteigen. Die Bagdadbahn wurde zum größten Infrastrukturprojekt des Osmanischen Reiches und zum zentralen imperialen Projekt des deutschen Kaiserreiches. Der Bahnbau hatte aber auch seine dunkle Seite: Etliche Bahnarbeiter wurden getötet. Vor allem in den schwierigen Streckenabschnitten in den Taurus-Bergen kam es häufig zu Unfällen, oft mit tödlichem Ausgang. Als der Erste Weltkrieg die Bauarbeiten behinderte, weil viele Arbeiter eingezogen wurden, mussten Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter ran. Immerhin versuchte die Bahngesellschaft, ihre armenischen Arbeiter vor der Zwangsdeportation in den Tod zu schützen, letztlich aber vergeblich. Die Bagdadbahn wurde für viele Armenier zur Todesbahn, mit der sie deportiert wurden.
Die gemeinsame Niederlage Deutschlands und der Türkei und die darauffolgende Zerlegung des Osmanischen Reiches durch die Siegermächte führten zunächst zu einer Zäsur in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen der neuen deutschen und der neuen türkischen Republik. Die Wiederbelebung der Beziehungen erfolgte dieses Mal nicht über das Militär – die türkische Regierung widerstand allen Avancen Hitlers und hielt sich aus dem Zweiten Weltkrieg heraus –, sondern über deutsche Professoren, die vor Hitler fliehen mussten. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk bot etlichen jüdischen und sozialdemokratischen Akademiker*innen ein Exil in der Türkei an und bediente sich ihrer Expertise beim Aufbau einer modernen Verwaltung und modernen Universitäten.
Damit blieb eine deutsch-türkische Verbindung bestehen, an die deutsche Firmen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder anknüpfen konnten. Der türkische Markt war in den fünfziger und sechziger Jahren zwar ziemlich abgeschottet, die Lira international nicht konvertibel, aber bei großen Infrastrukturprojekten kamen Firmen wie Siemens und Daimler-Benz bald wieder zum Zuge. Daimler baute in den sechziger Jahren auf Wunsch des türkischen Militärs ein Motorenwerk in Aksaray, einer Stadt östlich von Ankara und aus deutscher Sicht fernab der Zivilisation. Daimler wollte gerne Überlandbusse für den wachsenden türkischen Markt fertigen, am liebsten in der industriell am weitesten entwickelten Region rund um Istanbul. Weil damals aber ohne das Militär nichts lief, starteten sie zunächst in der Provinz.
Heute baut Daimler in Aksaray LKWs, die sie im gesamten Nahen Osten verkaufen. Längst hat der Konzern auch eine Busproduktion in einem Vorort von Istanbul. Nahezu die gesamte Busproduktion des Konzerns findet mittlerweile in Istanbul statt, in Deutschland gibt es für Busse nur noch eine Entwicklungsabteilung. Was die Türkei für deutsche Konzerne so attraktiv macht, ist nicht nur der Markt von rund 80 Millionen Konsumenten, sondern auch die niedrigen Löhne und die Unterdrückung der Gewerkschaften. Wie alle anderen türkischen Konzerne auch machen sich die deutschen Firmen die schlechte Lage der Beschäftigten zunutze. Gewerkschaftliche Organisation wird verhindert, legale Streiks sind nahezu unmöglich. Von Mitbestimmung wie in Deutschland ist in den türkischen Daimler-Werken keine Rede.
Das schlägt sich auch in der Sicherheit am Arbeitsplatz nieder. Arbeitsunfälle wegen schlechter Sicherheitsstandards sind in der Türkei notorisch. Aber auch deutsche Firmen, die in der Türkei produzieren oder bauen, sehen darüber hinweg. Im Frühjahr 2012 wurden elf Arbeiter, die beim Bau eines Einkaufszentrums für ein deutsches Unternehmen engagiert waren, bei einem Brand getötet. Sie mussten sterben, weil sie in nicht feuerfesten Zeltunterkünften untergebracht waren. Doch der deutsche Auftraggeber ECE – ein Projektentwickler für Einkaufszentren weltweit, der den Erben des Otto-Versand-Konzerns gehört – wusch seine Hände in Unschuld. Für die mangelhafte Unterbringung der Bauarbeiter sei ein Subunternehmen zuständig gewesen, so die Ausrede. Eine Entgegnung auf tödliche Unfälle, die sich auf türkischen Baustellen großer Beliebtheit erfreut und auch am neuen Istanbuler Großflughafen immer wieder dazu dient, Verantwortung von sich zu weisen.
Deutsche Unternehmen am neuen Flughafen
Zahlreiche deutsche Unternehmen beteiligen sich am Bau des neuen Flughafens in Istanbul. Als die türkische Regierung 2013 den Auftrag erteilte, gab der Frankfurter Flughafenbetreiber FRAPORT das höchste Angebot ab: 20 Milliarden Euro für den Bau und Betrieb des neuen Flughafens für 25 Jahre. Das Gebot war fast 8 Milliarden Euro höher als das der Baufirma İGA, die schließlich den Zuschlag erhielt. Die Hamburger Firma Heinemann erhielt den Zuschlag für den Duty-Free-Bereich und wird jährlich 500 Millionen Euro Miete an İGA zahlen. DHL baut auf dem neuen Flughafengelände ein 34.000 Quadratmeter großes Logistikzentrum im Wert von 135 Millionen Euro, während Thyssen Krupp alle 143 Passagierbrücken für das Terminal lieferte. Siemens wird für das Energiemanagement der Brandschutzsysteme des neuen Flughafens verantwortlich sein.
Länger noch als Daimler Benz ist Siemens in der Türkei aktiv. Überall im Energie-, Transport- und mittlerweile auch im Gesundheitssektor mischt Siemens mit. Ihre erste türkische Niederlassung entstand 1907. Seitdem baut Siemens Kraftwerke, elektrifiziert die Bahn, die Metro und baute die ersten Windparks. Im Moment verhandelt Siemens einen Großauftrag, der in seinen Dimensionen an die Bagdadbahn erinnert: Für über 35 Milliarden Euro soll der Konzern neue Hochgeschwindigkeitsbahntrassen bauen und die existierenden modernisieren. Anschließend will die Türkei die entsprechenden Züge von Siemens kaufen.
Nicht nur Großkonzerne aus Deutschland sind in der Türkei aktiv. Im Gegenteil: Insgesamt sind in dem Land 7.200 deutsche Unternehmen ansässig, nach Angaben des Auswärtigen Amtes mehr als in jedem anderen Land außerhalb Deutschlands. Diese massive Präsenz deutscher Firmen und deutschen Kapitals ist das Rückgrat der deutsch-türkischen Beziehungen. Ein einziges Mal gerieten die Beziehungen zwischen beiden Ländern ernsthaft in Gefahr: Als nach dem Putschversuch 2016 eine Schwarze Liste auftauchte, in der rund 800 deutschen Firmen eine Nähe zu „Terrororganisationen“ vorgeworfen wurde. Die Liste verschwand schnell wieder in der Versenkung. Sie sei ein Fehler niedriger Bürokraten gewesen, hieß es aus der Türkei.
Mittlerweile herrscht wieder business as usual.

Die Stadt schluckt die Dörfer
Mit jedem großen Infrastrukturprojekt der Regierung wächst Istanbul – ohne Rücksicht auf Menschen und Umwelt. Steigende Immobilienpreise und der Verlust des Dorflebens hinterlassen bei den Menschen, die rund um den neuen Flughafen leben, ein Gefühl von Stolz und Hilflosigkeit.
Auf der Autobahn zum neuen Flughafen von Istanbul glänzt frischer Asphalt, neue Verkehrsschilder wurden aufgestellt. Sie führt vorbei an kahlrasierten Hügeln und ausgehöhlten Felsen. Die Pfeiler einer Überführung stehen wie nackte Beine in einer leeren Umgebung. Der neue Flughafen von Istanbul erstreckt sich vor uns bis jenseits des Horizonts. 81 Prozent der Baufläche waren Waldgebiet, auf 9 Prozent gab es Gewässer und 3 Prozent waren Weideland. Jetzt ist alles mit Beton überzogen. Nur auf dem Mittelstreifen der Zufahrtsstraße wurden junge Pinienbäume gepflanzt.
Der Flughafen wird ambitioniert als der größte der Welt bezeichnet. Bei der feierlichen Eröffnung nannte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ihn gar ein „Siegesdenkmal”. Er ist eines jener Mega-Bauprojekte der AKP, an denen viel von ihrer politischen und ökonomischen Zukunft, aber auch von ihrem Ansehen hängt: die dritte Bosporusbrücke, die Nord-Marmara-Autobahn, der künstliche Kanal Istanbul und besagter dritter Flughafen.
In der Umgebung des Flughafens gibt es Dörfer, auf deren Dorfplätzen noch Atatürk-Büsten mit dem Zitat „Der Bauer ist der Herr der Nation” stehen. Dabei wurde 2014 gesetzlich beschlossen, dass all diese Dörfer nun den Status eingemeindeter Vororte der Metropole verliehen bekommen – eine Zukunft hat das dörfliche, bäuerliche Leben hier ohnehin nicht. Das Dorf Yassıören hat ein Kaffeehaus und eine Bäckerei. Dafür gibt es zehn Maklerbüros. Die Quadratmeterpreise sind von 50 auf 500 Lira hochgeschnellt und man spricht darüber, dass bis zu 2.000 Lira drin wären. Und darüber, dass überall Hochhäuser gebaut werden sollen. Wann immer man mit jemandem spricht, donnert ein Lastwagen voller Aushub vorbei und unterbricht die Unterhaltung. Doch wenn man die Menschen darauf anspricht, sagen sie nur: „Das ist doch noch gar nichts.” Jemand erzählt, wenn er im Kaffeehaus sitze, zähle er 14 Lastwagen pro Minute.
Der Dorfvorsteher Abdülkadir Atay erzählt, dass seit den neunziger Jahren immer mehr Bauernfamilien ihre Grundstücke aufgegeben haben und der Ort seine Zukunft darin sieht, ein Teil des neuen Istanbul zu werden. Doch bis heute sagen diejenigen, die in der Innenstadt zu tun haben, dass sie „nach Istanbul” fahren. Denn die Stadt war und ist weit. Atay selbst hat noch Tiere, auch wenn er sie nicht mehr frei laufen lässt, weil es hier ja kein Weideland mehr gibt. Büffel hat hier niemand mehr, denn die brauchen feuchte Gebiete. Traurig ist Atay darüber, dass er das Dorf seiner Kindheit verliert. Aber er ist stolz darauf, dass seine dreieinhalbjährigen Zwillingstöchter in einer Stadt aufwachsen werden. Er nennt beide Emotionen in einem einzigen Satz. Man trifft hier viele Menschen, die ambivalent fühlen.
Die vielen Hunde, die nicht nur über die Dorfstraßen laufen, sondern auch über die Autobahn, tragen Knöpfe im Ohr. Ein Hinweis darauf, dass sie geimpft sind. Daran erkennt man auch, dass es Straßenhunde sind, die verschiedene Istanbuler Bezirksämter in der Stadt eingesammelt und hier ausgesetzt haben. Sie wurden immer weiter vertrieben, je mehr die Stadt wuchs und in der Natur, die eigentlich nur noch aus Lastwagen und Baggern besteht, wurden sie vor Hunger aggressiv.
„Es ist alles super, das neue Projekt der AKP!”
Vom Flughafen fahren wir in den Norden – dorthin, wo der Flughafen die Küste des Schwarzen Meeres berührt. Bis vor Kurzem lag hier in unmittelbarer Nähe der Kulakçayır-See inmitten eines Waldes voller Eichen, Erlen und Erdbeersträuchern. Auf dem Hügel, über den wir schreiten, könnte demnächst der Garten einer Villa oder ein schickes Restaurant stehen. Aus der Ferne wirken die Lastwagen wie arbeitsame Insekten. An der Küste ist das Wasser so trüb, dass man keine Fische darin fangen kann.
Hier steht das Haus von Güven Aydoğan, der sagt: „Es ist alles super, das neue Projekt der AKP!” An seinem Gesichtsausdruck kann man nicht ablesen, ob er es sarkastisch oder ernst meint. Es könnte auch die vorsichtige Erwägung sein, dass man einer Journalistin eben genau das sagen muss. „Das ökologische Gleichgewicht ist ein anderes Thema”, fügt er dann hinzu und beschwert sich, dass es keine Flächen mehr gibt, auf denen seine Hühner Auslauf haben können. Aydoğan stammt aus Yeniköy, das später einmal zwischen dem Kanal Istanbul und dem Flughafen liegen wird. Das neue Istanbul wird das alte Yeniköy schlucken.
Im Dorf Durusu betreibt Suzan Taşlıtepe ein Lokal, das um die Mittagszeit brechend voll ist. Eine Gruppe von Vorarbeitern der Baustelle ist da. Taşlıtepe scherzt mit den Männern, die gelbe Warnwesten tragen: „Schaut, was die in ihren gelben Westen in Paris alles anstellen. Versucht das mal hier und wir schauen, was euch passiert”, sagt sie lachend. Die Vorarbeiter aus umliegenden Dörfern haben tatsächlich den Protest Tausender Flughafen-Arbeiter unterstützt. Die Arbeiter protestierten gegen schlechte Arbeitsbedingungen und Bettwanzen in den Baracken. Die Polizei setzte Tränengas ein, auch die Vorarbeiter bekamen es ab. „Früher gab es hier viel Kleinvieh, heute gibt es nur noch Minivieh, nämlich Bettwanzen”, witzelt einer. In der Leichtigkeit der Mittagspause ziehen ihre ernsten Erlebnisse über den Tisch wie Wolken über einen Tag: Mal verdunkelt es sich, dann wird es wieder heller.
Aslı Odman ist Augenzeugin jeder Etappe des dramatischen Wandels der Gegend. Sie ist Dozentin für Stadt- und Raumplanung an der Istanbuler Mimar Sinan-Universität. Mit dem Bau der ersten Bosporusbrücke 1973 ist die alte Stadt um ein Drittel gewachsen, mit dem Bau der zweiten Bosporusbrücke 1986 um ein weiteres Drittel. „Das letzte Drittel ist entscheidender als es mathematisch erscheint, denn die letzten Wälder der Stadt werden vernichtet”, erklärt Odman. „Das Ganze nimmt apokalyptische Dimensionen an.” Wenn auch noch der Kanal Istanbul gebaut wird, stehe das Millionen Jahre alte Gleichgewicht der Marmara-Region auf dem Spiel. „Niemand kann voraussehen, was geschehen wird“, sagt Odman. „Aber der Nordwind wird durch die Stadt aufgehalten. Das Wassersystem, das die Innenstadt versorgt, wird zerstört. Es könnte zu Erdrutschen und Erdbeben kommen.”
Uğur Erat, ein Makler aus Durusu, erzählt, dass jetzt nicht mehr so viele neue Flächen bebaut würden, aber viele ihre Grundstücke verkauften. Er beschwert sich darüber, dass sich auf einmal alle als Makler versuchen. Erat hat auch eigene Grundstücke. Während unseres Gesprächs brennen ihm die Augen. Das sei seit einer Weile so. Auf die Frage, ob das vom Baustaub komme, reagiert er erstaunt, als komme ihm zum ersten Mal in den Sinn, dass das damit zusammenhängen könnte. Dann erzählt er, dass er vor lauter Staub seinen Balkon gar nicht mehr reinige. Seine Mutter hat Krebs im Endstadium und seit Monaten die Wohnung nicht mehr verlassen, weil der Staub sie belastet.
Ein Siegesdenkmal der Eroberer
Obwohl das Dorf Ağaçlı, in dem Cenk Çalışır lebt, 19 Kilometer vom Flughafen entfernt liegt, wurden die umliegenden Wälder abgeholzt. Çalışır engagiert sich bei der Umweltschutzorganisation Verteidigung der Nordwälder, die nach den Gezi-Protesten entstanden ist und seit fünf Jahren gegen die Megaprojekte der Regierung kämpft. An sein Dorf grenzen ein Steinbruch und mehrere Sprengstoffdepots. Die Grundstücke des Dorfes wurden verstaatlicht. Hier soll die staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKI ihre mehrstöckigen Häuser hinsetzen.
Weniger als die Hälfte der Dorfbewohner*innen hat Individualklage erhoben. „Wir haben den Prozess alle verloren”, sagt Çalışır wütend. Fünf Familien haben Einzelfallbeschwerden beim Straßburger Menschenrechtsgerichtshof eingereicht. Er ist auch wütend auf die anderen Dorfbewohner*innen, die die Klagenden mit dem Rechtsstreit allein ließen. Erst hätten sie sich so aufgeführt, als hätten sie im Lotto gewonnen und als sie dann merkten, was geschah, nur gesagt: „Das geschieht sicher hinter Erdoğans Rücken“. Seit Beginn der Baumaßnahmen habe die Erkenntnis, dass das Recht auf Seiten der Regierung und des Kapitals stehe, bei vielen Menschen eine tiefe Hilflosigkeit hinterlassen.
Der Soziologe Jean-François Pérouse, der sich mit dem Stadtwandel in Istanbul beschäftigt, ist der Auffassung, dass die Planer ihren Erfolg anhand von zwei Kriterien definieren: daran, wie groß die Projekte sind und wie schnell sie fertiggestellt werden können. Eine wahnwitzige Vorstellung urbaner Expansion habe diese Erfolgsmaßstäbe seit 2012 in die Höhe getrieben. Istanbul werde zu einer internationalen Marke, die im Schaufenster der Politik ausgestellt werden soll. Menschen, Umwelt und kulturelle Ressourcen würden bedenkenlos geopfert, es entstehe eine Stadt ohne Identität, ohne Gedächtnis und ohne lokale Eigenheit, so Pérouse. „Es geht um eine kriegerische Herausforderung, eine neue Ausdrucksform der osmanischen Eroberermentalität. Die Ressourcen werden verödet und die klare Erwartung ist, dass das niemand in Frage stellt“, sagt er. „In den betroffenen Dörfern empfinden manche Menschen gleichzeitig Stolz und ein unbestimmtes Gefühl von Verlust, in das sie sich flüchten.”
Pérouse’ Hinweis auf die osmanischen Eroberer kommt nicht von ungefähr. Vergangenes Jahr hat das Konsortium IGA den Jahrestag der Eroberung Istanbuls im Jahr 1453 mit 1.453 Lastwagen voller Aushub gefeiert, die es durch den Wald schickte, den einst Sultan Mehmed „der Eroberer“ zu Rosse durchritt. Der Unterschied zu den Zeiten des Sultans: Dieser Wald ist nicht mehr da. Es war eine Eroberung, die sich gegen die Fundamente der Natur richtete und nicht nur Insekten und Vögeln ihr Habitat raubte, sondern auch Menschen ihren Willen und ihr Wohlergehen. In der Tat: Der neue Flughafen von Istanbul ist ein Siegesdenkmal der Eroberer.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

Die Verkehrsanbindung zum Flughafen
Reisende, die vom Flughafen Istanbul abfliegen, müssen sich auf lange Wege gefasst machen. Der Flughafen liegt weit entfernt vom Stadtzentrum und bisher gibt es keine Bahnverbindung. Auch die Größe des Terminals könnte zu langen Wartezeiten führen.
Der neue Istanbuler Flughafen ist 44 Kilometer entfernt vom Taksim-Platz, einem der belebtesten Plätze der Stadt. Die große Distanz zwischen Flughafen und Stadtzentrum, die enorme Größe des Flughafengeländes und das Fehlen einer Schienennetzanbindung werden den Reisenden und den dort Beschäftigten voraussichtlich erhebliche Schwierigkeiten bereiten.
Laut einer Studie des Forschungsunternehmens INRIX steht Istanbul an zweiter Stelle auf einer Liste der 200 Städte mit dem dichtesten Verkehrsaufkommen. Für das Istanbuler Verkehrssystem ist ein dezentraler Flughafen, der nur über die Autobahn zu erreichen ist, ein großer Schwachpunkt.
Alper Çay*, der für eine NGO arbeitet, pendelt seit vier Jahren regelmäßig zwischen Istanbul und Izmir. „Von meinem Arbeitsort in Zincirlikuyu bin ich mit dem Metrobus und der Metro in einer Stunde und 15 Minuten am Atatürk-Flughafen“, sagt er. Ein Schienennetz sei für eine Stadt mit einem solch großen Verkehrsproblem wie Istanbul unverzichtbar. Unter den gegebenen Umständen werde er den neuen Flughafen nicht nutzen. „Es ist völlig schleierhaft, wie lange die Fahrt dorthin dauert. Wenn ich mal etwas später von der Arbeit wegkomme, wenn mir ein Meeting oder ein Unfall dazwischenkommt, verpasse ich meinen Flug“, fürchtet Çay.
Um zum Flughafen zu gelangen, der am 6. April den Vollbetrieb aufnehmen wird, können Reisende derzeit die drei öffentlichen Buslinien H-2, H-3 und H-4 sowie Busse der privaten Busfirma Havaist nutzen. Die Firma Havaist hatte im September 2018, kurz vor der ursprünglich geplanten Eröffnung des Flughafens, erklärt, dass sie ab Oktober Busse von 18 Startpunkten aus bereitstellen werde. Sobald der Umzug vom Atatürk-Flughafen zum neuen Flughafen vollzogen ist, sollen diese neuen Buslinien den Betrieb aufnehmen.
Wann die Bahnverbindung zum Flughafen fertiggestellt wird, ist noch unklar. Das Ministerium für Transport und Infrastruktur erklärte, die Metroverbindung vom Stadtteil Gayrettepe zum neuen Flughafen werde Anfang 2020 und jene von Halkalı Ende 2020 eröffnet. Da aber auch der Eröffnungstermin des Flughafens zunächst vom 29. Oktober 2018 auf den 1. Januar und dann wieder auf den 6. April verschoben wurde, bleibt abzuwarten, ob das Schienennetz zum genannten Termin bereitsteht. Solange der Flughafen vom Stadtzentrum nur über die Autobahn zu erreichen ist, werden Reisende, die früher den Atatürk-Flughafen genutzt haben, wohl vom Flughafen Sabiha Gökçen aus fliegen.
„Hier wurden Milliarden zum Fenster rausgeworfen“
Aber nicht nur die Anbindung ist schlecht. Die gigantische Größe des Flughafens führt dazu, dass die Passagiere im Flughafen viel Zeit verlieren und Stunden früher vor Ort sein müssen, um ihren Flug zu erreichen. Die Gesamtfläche des Flughafens beträgt 76,5 Millionen Quadratmeter, allein das Terminal ist 1,3 Millionen Quadratmeter groß. Inlandsreisende können Ankara schneller mit dem Zug und Izmir schneller mit dem Bus erreichen.
Der Medizinprofessor Haluk Savaş nutzt die Istanbuler Flughäfen regelmäßig. Kürzlich schrieb er auf seinem Twitter-Account: „Gerade eben sind wir auf dem ‚größten Flughafen der Welt‘ in Istanbul gelandet. Es waren alte Menschen und Behinderte dabei, wir sind die ganze Zeit gelaufen. Da ich krank bin, bekam ich prompt einen Schwächeanfall. Meine persönliche Meinung: Hier wurden Milliarden von Dollar zum Fenster rausgeworfen.”
Savaş startete in den sozialen Medien eine Umfrage. Von seinen 3.844 Follower*innen, die abstimmten, halten nur 9 Prozent das Projekt für „sinnvoll“, 76 Prozent sagen, es sei „eine absolute Verschwendung und Planlosigkeit“. Der Rest gab an, keine Meinung dazu zu haben. Gegenüber taz.gazete spricht Savaş die Sorge vieler Passagiere aus: „Weil es keine Metroverbindung gibt, über die man den Flughafen erreichen kann, werden überflüssige Investitionen nötig.“
Die enorme Größe des Flughafengeländes werde die Dauer von Boarding und Ankunft stark verzögern, sagt Nesrin Can* von der Marketingabteilung der TAV-Holding, dem Flughafenbetreiber des Atatürk-Flughafens. Sie ist der Meinung, dass der Verzicht auf eine räumliche Trennung von In- und Auslandsflügen bei einem derart großen Flughafen ungünstig ist. Sie befürchtet, dass diese neue Ordnung den Ablauf sogar dann erschweren wird, wenn ein geringes Flugaufkommen besteht.
Ahmet Kara*, der als Sicherheitsangestellter auf dem neuen Flughafen arbeiten wird, hält das neue System, das den Flughafen in drei durch Codes kategorisierte Bereiche einteilt, zwar für besser als das alte System. Da man den Menschen das System aber noch nicht verständlich erklärt habe, rechnet auch er mit Chaos.
Dann lieber Sabiha Gökçen
Das Flughafenpersonal, das vom Atatürk-Flughafen zum neuen Flughafen umziehen wird, halte generell nicht viel vom Umzug, sagt Kara. „Den Atatürk-Flughafen erreichen wir, wenn es sein muss, auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Beim neuen Flughafen wird das nicht so sein. Da bevorzuge ich doch den Sabiha-Gökçen-Flughafen.“
Neben der weiten Anfahrt bereite den Angestellten Sorge, dass sie noch keine klare Auskunft über die Arbeitsbedingungen am neuen Arbeitsplatz bekommen haben. Kara weiß immer noch nicht, wie die Arbeitszeiten auf dem neuen Flughafen geregelt werden. Die Firmen geben den Beschäftigten keine eindeutigen Antworten auf ihre Fragen, sagt er. Noch sei beispielsweise ungeklärt, ob der Arbeitsweg in die Arbeitszeit eingerechnet wird. „Die Firmen haben das Recht, Angestellte nach elf Stunden Pause wieder arbeiten zu lassen. Aber wir wissen nicht, ob die Anfahrtszeiten in die elf Stunden eingeschlossen sind“, sagt er. Was Kara auch beunruhigt: Wie kann auf einem derart großen Flughafen für Sicherheit gesorgt werden?
Der Unmut vieler Reisender richtet sich auch gegen die schlechten Arbeitsbedingungen beim Flughafenbau. Es ist bekannt, dass hier Bauarbeiter gestorben sind und gegen protestierende Arbeiter hart vorgegangen wurde. Für Gözde Engin*, die berufsbedingt viel fliegt, wiegt das schlechte Gewissen schwerer als die logistischen Fragen. Sie sagt, sie verzichte lieber auf einen Flughafen, bei dessen Bau Arbeiter vor allem deshalb schlecht behandelt wurden, damit er früh genug fertig ist – und die Politiker ihn dann im Wahlkampf präsentieren können. „Dann werde ich eben vom Sabiha-Gökçen-Flughafen aus fliegen“, sagt sie.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
* Name von der Redaktion geändert. Die Protagonist*innen möchten aus Sicherheitsgründen anonym bleiben.

Auf der Zugroute der Störche
Der neue Istanbuler Flughafen liegt direkt auf Vogelzugrouten, vor allem der von Störchen. Bedenken von Umweltschützern wurden im Vorfeld weggefegt. Aber Kollisionen von Vögeln und Flugzeugen sind ein Sicherheitsrisiko.
Fikret Can blickt konzentriert in den Himmel. Er steht auf einer Aussichtsplattform in Sarıyer hoch über dem Bosporus. Es ist ein sonniger Frühlingsmorgen in Istanbul, „bestes Vogelzählwetter“, sagt Can. Vor den kleinen Kumuluswolken kann er die Störche am besten sehen. Vom Lärm Istanbuls ist hier oben über den Bäumen nichts zu hören. Einige Kilometer nördlich mündet der Bosporus ins Schwarze Meer, im Süden ragen die Wolkenkratzer des Finanzzentrums Maslak in den Himmel. Am Fuße des Hügels glitzert das Wasser in der Sonne, Tanker ziehen lautlos vorbei. Der hagere 74-Jährige legt den Kopf in den Nacken, schaut durchs Fernglas. Es ist kurz nach 11 Uhr, als er die ersten Störche sichtet.
Von Anfang März bis Mitte Mai überqueren Hunderttausende Störche auf ihrem Weg von Afrika nach Europa die Meerenge, die meisten Zugvögel sind in den letzten beiden März- und den ersten zwei Aprilwochen zu beobachten. Der Bosporus ist ein Flaschenhals für den Vogelzug, erklärt Fikret Can, eine der schwierigsten Passagen für die Störche. Um Energie zu sparen, lassen sich die Zugvögel von der Thermik nach oben treiben. Durch den Aufwind können sie kilometerweit segeln, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Auf ihrem Weg meiden sie das Meer, sie fliegen immer entlang der Küste über dem Festland.
Wer in Istanbul etwas über Störche erfahren will, fragt Fikret Can. Seit 14 Jahren beobachtet der pensionierte Rechtsanwalt den Storchenzug. Dafür ist er in den Stadtteil Büyükçekmece am Marmarameer gezogen, das die Störche Ende des Sommers auf ihrer Südroute überfliegen. Mit seinem Team von Freiwilligen zählt er die Vogelschwärme des Herbstzugs und kümmert sich um verletzte Vögel. „Die Störche sind mein Leben“, sagt Can. Seine Liebe zur Natur begann als Sohn eines Hirten aus einem Dorf an der Schwarzmeerküste. Auch im Frühling macht er sich an den Wochenenden auf den weiten Weg vom südlichen Stadtrand Istanbuls zum nördlichen. Vier Stunden braucht er mit dem Bus nach Sarıyer.
Kurz vor der Schwarzmeerküste liegt einer der letzten grünen Orte, die sich die Metropole noch nicht einverleibt hat: die Kuzey Ormanları, die Nordwälder. Das großflächige Waldgebiet ist die Lunge Istanbuls, von hier bezieht die Stadt einen Großteil des Trinkwassers. Doch der Bestand der Wälder ist in Gefahr, denn knapp 40 Kilometer westlich ist in den vergangenen fünf Jahren der neue Flughafen Istanbul entstanden, eines der Mega-Projekte der AKP-Regierung. Mit einem 1,4 Millionen Quadratmeter großen Terminal, sechs Landebahnen und einer Kapazität für 200 Millionen Fluggäste soll der Flughafen bis zum Jahr 2028 der größte der Welt werden.
Der Inbegriff der „neuen Türkei“
Am 29. Oktober 2018, dem Tag der Republik, eröffnete Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan das Prestigeprojekt. Bei der feierlichen Zeremonie nannte er den Flughafen ein „Siegesdenkmal“. Für Erdoğan hat er einen ebenso hohen symbolträchtigen Wert wie die dritte Brücke über den Bosporus und der Kanal Istanbul, ein zweiter künstlicher Bosporus, der in der Nähe des neuen Flughafens gegraben werden soll.
Diese Großprojekte, gebaut von regierungsnahen Holdings und gegen den Widerstand von Umweltschützer*innen durchgesetzt, sollen Prosperität versprechen und dem Bauboom in der expandierenden Metropole den Weg ebnen. Die Bauwerke sind Wahlversprechen und Inbegriff der „neuen Türkei“ unter der AKP-Regierung, mit ihnen baut sich Erdoğan Denkmäler. Deshalb waren die Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag, bei denen er die Hauptstadt und die Wirtschaftsmetropole Istanbul an die Opposition verlor, eine solche Niederlage für ihn: Sie brechen mit dem Nimbus unbesiegbarer Größe.
Doch bisher war der neue Flughafen nur für einige Flüge geöffnet. Die Aufnahme des regulären Betriebs wurde aufgrund struktureller Mängel und Probleme mehrmals verschoben. Nun findet der große Umzug vom Atatürk-Flughafen auf das neue Gelände am 6. April statt.
Der dritte Flughafen ist höchst umstritten, bereits vor Baubeginn warnten Umweltaktivist*innen und Biolog*innen vor den ökologischen Folgen eines solchen Megaprojekts. Für den gigantischen Flughafen wurden Millionen Bäume abgeholzt und der Lebensraum von Hunderttausenden Tieren zerstört. Wenn nun der Regelbetrieb aufgenommen wird, teilen sich Flugzeuge und Zugvögel den gleichen Luftraum, denn der neue Flughafen liegt auf der Flugroute der Störche, die von ihrem Winterquartier in Subsahara-Afrika nach Mitteleuropa zurückkehren. Das, befürchten Ornitholog*innen und Umweltschützer*innen, wird nicht nur die Vögel gefährden, sondern auch zum Risiko für die Flugsicherheit werden.
Zusammenstöße von Flugzeugen und Vögeln, im Fachjargon Vogelschlag genannt, sind weltweit ein Problem für den Luftverkehr. Die größte Vogelschlag-Gefahr besteht während des Starts und der Landung in Höhen bis zu 300 Metern. Die Impulskräfte, die bei einem Zusammenstoß auftreten, können das Zehntausendfache des Gewichts des Vogels übertreffen. Das sind bei einem Storch, der rund 4 Kilo wiegt, 40 Tonnen. Fliegt ein Flugzeug in einen Vogelschwarm, können die Triebwerke ausfallen und das Flugzeug muss schlimmstenfalls notlanden, so wie der Airbus A320, der nach einer Kollision mit einem Schwarm Wildgänsen vor zehn Jahren auf dem Hudson River notlanden musste. Laut dem Deutschen Ausschuss zur Verhütung von Vogelschlägen im Luftverkehr entstehen durch Vogelschläge weltweit jährlich Schäden in Höhe von 2 Milliarden Dollar.
„Hier zählt nur der Profit”
Direkt über dem Vogelbeobachtungsturm in Sarıyer kreist ein Schwarm Störche. Die Thermik treibt sie so weit nach oben, dass sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. „Ich zähle 110“, ruft Ümit Yardım, einer von zehn Männern und drei Frauen, die mit Fikret Can auf der Aussichtsplattform sind. Seit 16 Jahren kommt Yardım hierher, um Zugvögel zu zählen, bis vor wenigen Jahren stand der heute 63-Jährige jeden Frühlingstag und bei jedem Wetter von 9 Uhr morgens bis 17 Uhr in Sarıyer. Inzwischen erkennt der pensionierte Ordnungsbeamte die Vogelarten auch ohne Fernglas.
Die Vogelbeobachter*innen sind gut ausgerüstet, sie haben Campingstühle und Thermosflaschen mitgebracht. Der Jüngste ist 19. Ihr gemeinsames Gesprächsthema: Vogelarten. Mit ihrer Outdoorkleidung und den Ferngläsern sind sie leicht von den Tourist*innen zu unterscheiden, die auf den Vogelbeobachtungsturm steigen, um Selfies vor dem Bosporus und der dritten Bosporusbrücke zu machen, die sich wenige Kilometer nördlich über die Meerenge spannt.
„Wir haben immer wieder gesagt, dass der neue Flughafen am falschen Ort entsteht. Die Störche können keine andere Strecke wählen“, sagt Fikret Can, der sich die Kapuze seiner Windjacke tief über die Camouflage-Schildmütze gezogen hat und nach oben blickt. Viele Ornitholog*innen und Umweltschützer*innen hätten die Regierung informiert und gewarnt, erzählt er. Niemand habe auf sie gehört. „Niemand stoppt die Regierung. Hier zählt nur der Profit. Für mich als Vogelbeobachter und Storch-Experte ist das Mord.“
Am neuen Flughafen könnte es durch Kollisionen mit Zugvögeln jedes Jahr zu zwei bis drei Flugzeugunfällen kommen, warnte der Ornithologe Zeynel Arslangündoğdu von der Istanbul-Universität bereits 2014 in einem Interview mit der inzwischen eingestellten Zeitung Radikal. Seine Risikoanalyse stützte er auf Ergebnisse der Feldstudien, die er seit 2005 in Sarıyer und Umgebung zum Vogelzug machte. Auch die Zahl ähnlicher Zusammenstöße am Atatürk-Flughafen, die Größe des neuen Flughafens, die Ausrichtung der Landebahnen und dass dort alle drei Minuten ein Flugzeug landen oder starten sollte, berücksichtigte er. IGA, das Konsortium, das den Zuschlag für den neuen Flughafen bekommen hat, ging auf seine Warnung nicht ein, sagt Arslangündoğdu. Aber es habe negative Auswirkungen auf einige seiner Projekte und Beziehungen zu Institutionen gehabt, dass er seine Bedenken geäußert habe. „Wenn man vor dem Bau des Flughafens ortskundige Ornithologen gefragt hätte, hätte ich gesagt, dass das nicht der richtige Ort ist“, sagt er. „Ich habe bereits vor dem Bau versucht, mit meinen Forschungen zu erklären, warum ich dagegen bin. Aber der Flughafen wurde dort gebaut. Jetzt geht es darum, an die Flugsicherheit zu denken.“
„Die Konditionen sind nicht ideal”
Onur Kutlu ist als Pilot einer türkischen Fluggesellschaft schon zwei Mal mit einem Vogel kollidiert. Seit 2013 arbeitet Kutlu auf den beiden Istanbuler Flughäfen, ab April wird er auch vom neuen Flughafen starten. Einmal flog ein Vogel gegen das Fenster des Cockpits, einmal unter den linken Flugzeugflügel. Nach der Landung entdeckte er unter dem Flugzeugflügel eine Blutspur und meldete den Vogelschlag beim Kontrollturm. Der Motor war nicht beschädigt. „Das passiert sehr schnell, man sieht den Vogelschwarm und dann hört man schon den Aufprall“, sagt er in einem Café im belebten Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls. Weil die Airline eigentlich nur über offizielle Pressesprecher*innen mit Medien kommuniziert, will der Mittdreißiger anonym bleiben. Der taz ist sein echter Name aber bekannt. Obwohl er sich anonym äußert, wählt er seine Worte mit Bedacht.
„Vogelschlag ist ein großes Problem für uns, das sehr häufig an Flughäfen auftritt, die nahe am Meer oder an Wäldern liegen“, sagt Kutlu. Die Flughäfen versuchten, die Vögel mit einem Signalsystem von den Landebahnen zu vertreiben. „Aber wie effektiv ist das?“, fragt er und gibt selbst die Antwort: „Nur kurzfristig.“ Doch die Flugzeugmotoren seien stark und die Piloten für dieses Risiko geschult, sie erhielten Trainings und Checklisten, die sie abarbeiten, wenn das Flugzeug mit einem Vogel zusammenstößt. Beim Start ließe sich eine Kollision kaum verhindern, weil er beschleunigen müsse. Wenn man beim Landen in einen Vogelschwarm gerate, müsse man sich entscheiden, ob man ausweiche oder die Landung fortsetze. „In vielen Fällen ist es logischer, die Landung trotzdem fortzusetzen, denn hinten sitzen eine Menge Menschen, für deren Sicherheit ich verantwortlich bin“, fährt er fort. „Jede abrupte Bewegung kann bei der Flughöhe und der Geschwindigkeit zu Problemen führen, die man später nicht mehr rückgängig machen kann.“
Kutlu sagt, er freue sich für sein Land, dass es nun einen neuen Flughafen habe. Für ihn bedeutet das Bauprojekt Wachstum und Standortvorteile. Die Piloten seien auf das Risiko vorbereitet, wiederholt er, es müsse ein großer unglücklicher Zufall sein, wenn etwas Schlimmes passiert. Aber natürlich gebe es die Gefahr immer. „Das betrifft nicht nur den neuen Flughafen, sondern auch Atatürk und Sabiha Gökçen: Weil sie am Meer liegen, gibt es immer Vögel in der Nähe“, sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Vielleicht ist das Risiko beim neuen Flughafen eine Spur höher, weil er näher am Wald liegt, die Häufigkeit der Vogelschläge kann zunehmen.“ Als das Aufnahmegerät ausgeschaltet ist, sagt er noch, dass es für ihn schwieriger werden wird auf dem neuen Flughafen. „Der starke Wind, der dichte Nebel in dem Gebiet; die Konditionen sind nicht ideal.“ Und natürlich wolle er nicht, dass der Wald abgeholzt wird. „Wir zerstören die Umwelt mit dem, was wir tun. Aber wenn es passiert ist, ist es so. Es bringt nichts, zurückzuschauen.“
Auf der Autobahn vom Stadtzentrum nach Nordwesten, wo die Stadt ausfranst, ziehen hochgezogene Neubaugebiete und braune Hügel, Kräne und abgetragene Erde, Stromtrassen und Windräder vorüber. Vorbeibretternde Lastwagen wirbeln Staub auf. Hier werden in den kommenden Jahren Wohnblöcke entstehen, die Metropole wird sich Stück für Stück nach Nordwesten ausbreiten. An der Autobahn D020 sind bereits die Anfänge zu sehen. Gut 40 Autominuten vom zentralen Taksim-Platz entfernt taucht er dann auf, der noch menschenleere Flughafen. Seine gigantischen Ausmaße sind im Vorbeifahren nur zu erahnen.
Die Störche werden nicht mehr kommen
25 Kilometer weiter südwestlich liegt das Dorf Sazlıbosna, eine Gemeinde mit wenig mehr als 1.000 Einwohner*innen, die an den Istanbuler Bezirk Arnavutköy angegliedert ist. Sazlıbosna ist in Istanbul als Storchendorf bekannt. Die etwa 70 Störche, die jedes Jahr aus ihren Winterquartieren zurückkommen und auf den Straßenlaternen von Sazlıbosna nisten, locken an den Wochenenden Besucher*innen aus der Metropole an.
Der Dorfälteste, ein 80-Jähriger, der mit einer Gruppe Männer im zentralen Teegarten neben der Moschee sitzt, erinnert sich, dass die Störche schon in seiner Kindheit kamen – und wahrscheinlich auch davor. „Vor 15 Jahren gab es noch mehr Störche, heute kommen weniger“, sagt er. Hier soll eines Tages der künstliche Bosporus entstehen. Wenn Sazlıbosna einmal am Ufer des Kanals liegt, wird die Stadt in das Dorf wachsen, die Immobilienpreise werden steigen und die Störche werden wegbleiben, denn mit der Stadt kommen Beton und Stromtrassen. Was das für die Dorfbewohner*innen bedeutet, werde die Zeit zeigen, sagt einer der Männer. Der Kanal Istanbul und der neue Flughafen sind gut für die Türkei, findet ein anderer. Über dem Dorf ziehen alle fünf Minuten Flugzeuge Kondensstreifen.
Beim Flughafenbetreiber IGA, einem Zusammenschluss der Baufirmen Cengiz, Limak, Mapa, Kolin und Kalyon, laufen die Vorbereitungen für den großen Umzug unter Hochdruck. Mehr als eine Woche vor der Eröffnung für den regulären Flugbetrieb ist keine Zeit für Presseanfragen. Nach dem Umzug beantworte man gern alle Fragen. Auf ihrer Internetseite präsentiert IGA die Maßnahmen, die ihre Umwelt- und Wildtierbeauftragten für die Flugsicherheit getroffen haben. „Der neue Istanbul-Flughafen misst der Flugsicherheit und den Vögeln große Bedeutung zu. Dank der durchgeführten Wildtierstudien ist IGA der erste Flughafen weltweit, der solch weitreichende Forschungen betrieben hat, bevor der Flughafen in Betrieb geht“, ist auf der Seite zu lesen.
Aus Konsultationen mit internationalen Flughäfen wie dem Ben Gurion Airport in Tel Aviv, der ebenso auf der Vogelzugroute liegt, habe man gelernt, dass es gegen Zugvögel keine Maßnahmen gebe, außer sie zu überwachen, steht in einem Bericht der IGA. Für das Wildlife-Management des Flughafens sammelten sechs Ornitholog*innen in den vergangenen fünf Jahren Daten aus ihren Vogelbeobachtungen im Radius von 13 Kilometern, bereiteten Risikoanalysen vor und erarbeiteten Maßnahmen, die Vögel vom Flughafen zu vertreiben. Mit Hilfe von Radar, Drohnen sowie akustischen und visuellen Signalsystemen wollen die Wildtierbeauftragten das Risiko von Vogelschlag minimieren.
„Ich hoffe, wir liegen falsch”
Reichen diese Maßnahmen? „Ja und nein“, sagt der Ornithologe Zeynel Arslangündoğdu von der Istanbul-Universität. Er hält die Arbeit der Ornitholog*innen auf dem Flughafen zwar für wichtig. Doch durch akustische und visuelle Warnsysteme lasse sich die Route der Zugvögel nicht ändern. Um die Flugsicherheit zu erhöhen und die Vögel zu schützen, könnten während des Vogelzugs im Frühling zusätzlich die Intervalle zwischen den Flügen vergrößert und alternative Startbahnen genutzt werden.
Der Istanbul-Flughafen wurde gegen alle Widerstände gebaut. Als 2013 das in der Türkei vorgeschriebene Gutachten zur Einschätzung ökologischer und sozialer Folgen des Bauprojekts vor erheblichen Risiken warnte, wurde es nicht angenommen. Stattdessen wurde ein zweites Gutachten in Auftrag gegeben, das weit unkritischer ausfiel. Naturschutzvereine werfen dem zweiten Gutachten mangelnde Expertise vor. Nun wird der Flughafen trotz schlechter Presse wegen katastrophaler Arbeitsbedingungen und trotz der Warnungen von Naturschützer*innen vor Umweltrisiken eröffnet – ein Megaprojekt als Monument des Fortschritts um jeden Preis. Die aber, die das Prestigeprojekt nicht verhindern konnten, versuchen jetzt, nach vorne zu blicken.
Der Vogelbeobachtungsturm in Sarıyer schwankt im Wind. Ümit Yardım setzt sich auf seinen Klappstuhl, er hat Rückenschmerzen. 3.000 Zugvögel haben sie heute gezählt. „Wenn dort alle drei Minuten ein Flugzeug startet, wird es zu Kollisionen mit Vögeln kommen“, sagt er. Und dann: „Ich hoffe, wir liegen falsch, ich hoffe, es passiert nichts.“

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Veröffentlicht am 8. April 2019.
Recherche: taz.gazete
Konzept/Design: Svenja Bednarczyk
Autor*innen: Volkan Ağar, Ali Çelikkan, Jürgen Gottschlich, Elisabeth Kimmerle, Tunca Öğreten, Pınar Öğünç, Burçin Tetik
Foto und Video: Şener Yılmaz Aslan, Vedat Arık, Mert Metin
Übersetzung: Sabine Adatepe, Judith Braselmann-Aslantaş, Ege Ferel, Oliver Kontny
Korrektur: Anne-Marie Brack, İshak Eren
Grafik: Lena Ziyal / infotext
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