Tödliche Polizeischüsse
Alle fünfeinhalb Wochen wird in Deutschland ein Mensch von Polizisten erschossen. Ein Dossier
Manuel F. steht splitternackt im Neptunbrunnen mitten in Berlin. Einen Moment später ist er tot – von einem Polizisten vor laufender Kamera erschossen. Für einen Augenblick nimmt im Juni 2013 eine breite Öffentlichkeit Anteil an einer Problematik, die sonst kaum beachtet wird: Regelmäßig kommen Menschen in Deutschland durch Schüsse aus Dienstpistolen ums Leben. Doch eine systematische Aufklärung fehlt, die Polizei behandelt jeden Fall als Einzelfall.
Nach Recherchen der taz starben in Deutschland seit 1990 mindestens 269 Menschen durch Polizeischüsse. 2016 erreichte die Zahl der Todesfälle den höchsten Stand seit 1999: 13 Menschen kamen ums Leben. 2017 scheint sich dieser Trend noch zu verstärken. Fast alle Opfer sind Männer, nur selten haben sie selbst eine Schusswaffe. Und immer häufiger trifft es Menschen mit psychischen Erkrankungen – wie Manuel F., der unter Schizophrenie litt und an diesem Tag auch noch unter Drogen stand.
Gut geschulte Beamte könnten womöglich so manches Leben retten. Doch oft werden Polizisten in Alltagseinsätzen überrascht. Sie handeln unangemessen, bis schlussendlich ein Schusswaffeneinsatz unausweichlich scheint. Weil es nur selten unabhängige Zeugen gibt, lässt sich ein Fehlverhalten im Nachhinein nur schwer feststellen. Fast immer können sich Polizisten erfolgreich auf Notwehr berufen.
Doch es gibt auch Fälle, in denen Unbewaffnete oder Flüchtende durch Polizeischüsse ums Leben kommen. Selbst dann sind die Ermittlungen schwierig. Kaum ein Beamter muss sich vor Gericht verantworten oder wird gar verurteilt. Mancher aber bezahlt seinen Einsatz mit einem bleibenden Trauma und kehrt nie wieder in seinen Dienst zurück – auch das gehört zur Geschichte tödlicher Polizeischüsse.

Reportage: Der Fall Grigorij S.
Am 11. März 2015 wird Grigorij Suscenko von Polizisten in Memmingen erschossen. Wieso gelingt es sechs ausgebildeten Beamten nicht, einen lediglich mit Messern Bewaffneten zu überwältigen, ohne ihn zu erschießen? Eine Rekonstruktion des Tathergangs
Grigorij S. bereitet seine Brotzeit zu, füllt Kaffee in die Thermoskanne. Dann verstaut er seine Sachen in einem Rucksack, als wäre dies ein ganz normaler Arbeitstag. Doch in einem Detail weicht die Vorbereitung vom alltäglichen Ritual ab: Grigorij S. versteckt unter seiner Kleidung mehrere Messer. Der 48-Jährige rechnet damit, dass die Polizei nach ihm sucht. Kurz nachdem er am Mittag des 11. März 2015 das Mehrfamilienhaus am Rande der oberschwäbischen Kleinstadt Memmingen verlässt, ist er tot – erschossen von einem Beamten.
Ein Mann in einer psychischen Ausnahmesituation, bewaffnet mit einem Messer, erschossen in vermeintlicher Notwehr – der Fall Grigorij S. ist in vielerlei Hinsicht typisch. Und er ist keine Seltenheit: Seit 1990 sind in Deutschland mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen worden. Im Jahr 2016 starben 13 Menschen auf diese Weise – so viele wie seit den 1990er Jahren nicht mehr. 2015 waren es zehn; einer davon ist Grigorij S. Doch hinter seinem Tod steckt eine individuelle und tragische Geschichte. Nachgegangen wird den Hintergründen in solchen Fällen nur selten; die Frage, wie es so weit kommen konnte, bleibt oft unbeantwortet.
Drei Wochen nach dem Tod sitzt Sylvia King auf ihrer Couch und scheint durch die Wand in das angrenzende Ein-Zimmer-Apartment zu schauen, in dem Grigorij S. wohnte. „Sie müssen den Falschen erwischt haben“, sagt King. Ihren ehemaligen Nachbarn in der ersten Etage des neungeschossigen Wohnhauses beschreibt sie als „freundlich“ und „ruhig“. Als Dank für entgegengenommene Pakete habe er ihr hin und wieder eine Schachtel Pralinen oder einen selbst geangelten Fisch gebracht. Dass er wie ein Verbrecher im Kampf mit der Polizei ums Leben gekommen ist, macht sie fassungslos.
S. tritt an seinem Todestag kurz vor 13 Uhr vor seine Haustür – da warten bereits sechs Polizisten in Zivil auf ihn. Sie wollen einen Haftbefehl vollstrecken. Als S. die Beamten bemerkt, lässt er seinen Rucksack mit dem Proviant fallen und zückt ein Taschenmesser. Klingenlänge: knapp neun Zentimeter. Die Polizisten versetzt das in höchste Alarmbereitschaft – so haben sie es in ihrer Ausbildung gelernt.
Den Blick auf seine Verfolger gerichtet, versucht sich S. langsam zu entfernen. Das Messer in der Hand, läuft er rückwärts den Weg entlang, der etwa 60 Meter bis zu einer Straße führt. Drei Polizisten folgen ihm unmittelbar, zwei haben ihre Waffe gezogen. „Ich dachte zunächst, das sei ein Spiel“, sagt eine Rentnerin, die die Szene zufällig von ihrem Balkon aus beobachtet. Erst als die Polizisten lautstark rufen, der Mann solle das Messer fallen lassen, wird ihr klar, dass es ernst ist. S. erreicht die Höflerstraße, eine kaum befahrene Gasse. Ab hier ist der Zeugin der Blick durch eine Tanne versperrt. Die drei Schüsse, die fallen werden, kann sie nur hören. Zwei treffen S. in die Brust, einer davon tödlich.
Wie die Mehrheit aller Erschossenen war Grigorij S. weder mit einer Pistole bewaffnet noch mussten die Polizisten eine akute Straftat unterbinden. Typischerweise ereignen sich die meisten Fälle dieser Art im privaten Raum – und auch bei S. können keine Augenzeugen oder Videoaufnahmen dabei helfen, das Geschehen zu rekonstruieren.
Die Ermittlungen
Bei dem Memminger Staatsanwalt Christoph Ebert laufen die Ergebnisse der Ermittlungen, die mit dem Bayerischen Landeskriminalamt eine externe Behörde übernimmt, zusammen. Der taz sagt Ebert, laut Tatortbericht und Obduktion seien die tödlichen Schüsse aus einer Distanz von nur einem Meter gefallen. Ein toxikologisches Gutachten habe bestätigt, dass die Polizisten zuerst Pfefferspray einsetzten – doch davon habe sich Grigorij S. nicht stoppen lassen.
Der Staatsanwalt sagt, S. sei „mit kräftigen Schritten“ und nach vorne gebeugt auf den Polizisten zugegangen. Die Hand, in der er das Messer hielt, sei „wie eine Lanze nach vorn gestreckt“ gewesen, sodass der Abstand zwischen Klinge und Brustkorb des Beamten nur noch 60 Zentimeter betragen habe. Weil ein Ausweichen nicht mehr möglich gewesen sei, habe der Beamte im Zurückweichen seinen ersten Schuss abgegeben, ohne zu treffen. Dann schoss er zwei weitere Male auf den Brustkorb des Mannes. Das Fazit des Staatsanwalts: „Ein Lehrbuchfall für Notwehrsituationen.“
Doch es bleiben Fragen: Wieso gelingt es sechs Polizisten nicht, einen mit einem Messer bewaffneten Mann zu überwältigen, ohne ihn zu erschießen? Wieso haben die Beamten nicht einen größeren Abstand zu Grigorij S. gehalten? Und wieso feuert ein ausgebildeter Beamter drei Schüsse in Brust- und nicht in Beinhöhe ab?
Die Antworten, die Polizei und Staatsanwaltschaft darauf geben, bleiben zwangsläufig unbefriedigend. Ebert spricht vom „letzten Moment“, in dem sich der Polizist vor der Entscheidung sah: „Er oder ich.“ Dass sich die Situation so gefährlich zuspitzen konnte, liegt für ihn an dem langen Zögern vor der Schussabgabe. Die Beamten hätten früher schießen dürfen. S. Gefährlichkeit ist für Ebert unzweifelhaft: Vier weitere Messer wurden an seinem Körper und in seinem Auto gefunden.
Ungeübter Umgang
Nahezu immer, wenn Beamte in Deutschland einen Menschen erschießen, sprechen die Behörden von Notwehr – schon bevor die Umstände eingehender untersucht werden. Das soll die Polizisten schützen, doch Zweifel sind angebracht. „Immer wenn jemand zu Tode kommt, ist ein Fehler gemacht worden“, sagt der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes.
Fakt ist: Polizisten sind im Umgang mit der Waffe ungeübt, viele schießen in ihrem Dienstleben niemals auf einen Menschen. Fehler können bei der Schussabgabe passieren, häufig aber schon in den Momenten zuvor. Der Drang, Situationen unmittelbar lösen zu wollen, und das Ziehen der Waffe können erst die Gefahr erzeugen, in der der Schuss dann als letzte Option erscheint. So geschehen 2013, als ein Polizist zu dem verwirrten Nackten Manuel F. in den Berliner Neptunbrunnen stieg – und dann im Zurückweichen stolperte und schoss.
Der ungeübte Umgang mit psychisch Kranken ist wohl das größte Problem. Etwa die Hälfte der Opfer zwischen 2009 und 2016 gehört dieser Gruppe an. Oft fehlt es Polizisten an Wissen, wie Kranke auf Stressmomente reagieren und wie solche Situationen zu entschärfen sind. Bis auf wenige Ausnahmen werden Ermittlungsverfahren gegen die Schützen bald eingestellt. Gerichtsverfahren gegen Polizisten sind selten, zu Verurteilungen kommt es so gut wie nie.
Zu einer der seltenen Verurteilungen kam es infolge eines Polizeieinsatzes in der Silvesternacht 2008. Im brandenburgischen Schönfließ will ein Verdächtiger mit dem Auto fliehen, als ihn Polizisten festzunehmen versuchen. Ein Polizist gibt sechs Schüsse durch die Seitenscheibe ab, um den Wagen zu stoppen. Er erhält eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren wegen Totschlags in einem minder schweren Fall.
Die Vorgeschichte
Grigorij S. wird in den kurzen Pressemeldungen nach seinem Tod mit nur einem Attribut beschrieben: als Person, die „aufgrund diverser Konflikte mit Behörden bekannt war“. Doch das Bild ist vielschichtiger und gibt Hinweise darauf, wie es zu seiner Erschießung kommen konnte.
1966 in Kasachstan geboren, kommt S. in den 1990er Jahren gemeinsam mit seiner Frau als Spätaussiedler nach Deutschland. Auch die meisten seiner Nachbarn in dem Memminger Hochhaus stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie schildern ihn als eher zurückgezogenen Menschen. An Feiern der Russlanddeutschen habe er nicht teilgenommen. Der gelernte Pilot arbeitete bei Liebherr in der Endmontage von Kühlgeräten. In einem Nachruf wird er als „zuverlässiger und fleißiger Mitarbeiter“ beschrieben.
Die Tragik der Geschichte liegt in S. Kampf um seinen Sohn. Die Ehe geht auseinander, nach der Scheidung bleiben der Sohn und die ältere Tochter bei der Mutter. Der Junge besucht seinen Vater regelmäßig. Auf S. Profil in einem russischen sozialen Netzwerk sieht man Bilder des stolz blickenden Vaters mit seinen fröhlich lachenden Kindern. Auch Nachbarn beschreiben S. als fürsorglich. Eine Frau im Haus erinnert sich, wie er stets nach unten eilte, wenn der Sohn beim Spielen gestürzt war oder mit anderen Kindern in Streit geriet.
Als der Junge 14 Jahre alt ist, wird S. das Sorgerecht entzogen; wieso, ist nicht mehr herauszufinden, auch weil niemand aus seiner Familie aufzufinden ist oder bereit ist, zu reden. Später gibt es Probleme zwischen dem Sohn und der Mutter, der Junge soll in eine Pflegefamilie. Als man den Jungen bei ihm abholt, rastet S. aus. So erzählen es Menschen, die ihn kennen. Wegen Beleidigung und Verleumdung wird er zu einer zwölfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Strafe fällt auch deshalb so hoch aus, weil S. bereits Vorstrafen hatte; für welche Vergehen, ist nicht bekannt.
Doch ins Gefängnis will S. auf keinen Fall. Auf die Ladung zum Haftantritt soll er der Staatsanwaltschaft schriftlich geantwortet haben, eine Verhaftung könne zu einem Problem werden. Am Tag des tödlichen Geschehens war die Frist zum Haftantritt bereits über einen Monat verstrichen.
Dass der Versuch, ihn festzunehmen, derart eskalieren konnte, hat womöglich noch einen weiteren Grund. Als S. die Beamten vor seiner Haustür bemerkt, schaut er in ein ihm bekanntes Gesicht. Dieser Polizist war bereits dabei, als sein Sohn bei ihm abgeholt wurde, um ihn in die Pflegefamilie zu bringen. S. kennt ihn mit seinem Namen. Ihm wendet er sich schließlich mit seinem Messer zu. Und von ihm wird er erschossen. Der Einsatz dieses Beamten war vermutlich ein folgenschwerer Fehler. Einer, den weder Polizei noch Staatsanwalt kommentieren.
Folgen für die Polizisten
Im Gespräch schildert Staatsanwalt Ebert die Bestürzung eines anderen Beamten, der bei der missglückten Verhaftung dabei war. Der Mann, ein erfahrener Polizeiausbilder, hatte ebenfalls seine Waffe auf S. gerichtet, auch er hätte schießen dürfen. „Wir haben es nicht geschafft, ihn festzunehmen“, soll er immer wieder gesagt haben. Noch am Tatort kümmert sich der Memminger Polizeihauptkommissar Rainer Fuhrmann um die Polizisten. Er ist Leiter der sogenannten Verhandlungsgruppe, die in den 1970er Jahren für die Verhandlung mit Geiselnehmern oder Suizidgefährdeten gegründet wurde, inzwischen aber auch bei internen Konfliktsituationen ihre Hilfe anbietet.
„Seit einigen Jahren dürfen auch Polizeibeamte Gefühle zeigen“, sagt Fuhrmann. Nach einem traumatischen Ereignis wie einer Schussabgabe oder dem Einsatz bei einem schweren Verkehrsunfall obliegt es dem Dienststellenleiter, seinen Beamten für einige Tage vom normalen Dienst abzuziehen. Normal sei, erklärt Fuhrmann, dass ein Polizist noch zwei oder drei Wochen unter seinen Eindrücken leide. Dauert es länger, empfiehlt er einen Notfallseelsorger oder den psychosozialen Dienst.
Eine Studie für die Deutsche Polizeihochschule kommt zu dem Ergebnis: Ein Drittel der Beamten zeigt nach einem Schusseinsatz nur geringfügige Stressreaktionen. Bei einem weiteren Drittel ist die Belastung größer, nimmt jedoch nach einigen Tagen beziehungsweise Wochen wieder ab. Ein letztes Drittel der Polizisten hat dagegen über einen längeren Zeitraum mit den psychischen Folgen zu kämpfen. Einige finden nie mehr den Weg zurück in den Streifendienst.
Wie üblich werden auch gegen den Todesschützen im Fall Grigorij S. Ermittlungen aufgenommen. Noch am Tag des Einsatzes wird er vom Staatsanwalt befragt. Die Ermittlungen seien ein „rechtsstaatliches Grundprinzip und keine Vorverurteilung“, erklärt der Memminger Polizeihauptkommissar Fuhrmann. Dies vermittle er auch den Polizisten, denn für diese sei es durchaus problematisch, wenn nach so einem Ereignis „jemand kommt und es wagt, das Erlebte zu hinterfragen“.
Für den Polizisten, der die tödlichen Schüsse auf Grigorij S. abgegeben hat, währt der Status als „Beschuldigter“ nur kurze Zeit. Die Gutachten des LKA stützen die Annahme der Notwehr. Nach einigen Tagen Auszeit sind der Schütze und seine Kollegen in ihrem normalen Dienst zurückgekehrt.
Stand der Chronik: 10. Mai 2017
Geschlecht und Alter der Erschossenen
Das Opferprofil ist eindeutig: Erschossen werden vor allem Männer, etwa zwei Drittel von ihnen sind jünger als 40. Die fünf erschossenen Frauen waren 26, 39, 41, 49 und 53 Jahre alt.
Ort des Geschehens
60 Prozent der Todesfälle ereigneten sich im öffentlichen Raum, auf Straßen, in Wäldern, auf Polizeistationen oder in Krankenhäusern. Vor allem im Zusammenhang mit der steigenden Zahl von psychisch kranken Opfern verlagert sich der Ort des Geschehens aber zunehmend in den privaten Raum, also Wohnungen oder Häuser.
Erschossene pro Million Einwohner nach Bundesland
Die meisten Toten gibt es mit 56 in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Bayern (49) und Hessen (35). Umgerechnet auf die Einwohner ist Hamburg das Land mit den meisten Fällen: 16 Menschen wurden hier erschossen, nur einer weniger als im deutlich größeren Berlin. Auch in anderen Großstädten kommt es gehäuft zu Todesschüssen, etwa in Frankfurt am Main (11) oder München (13).
Unbeabsichtigte Schüsse
Die Gesamtzahl der 269 Toten teilt sich auf in 247 Fälle, die für die Polizei überwiegend Notwehrsituationen darstellen (rot), und 22 Fälle, die als Unfall eingestuft wurden (blau; 8,2 Prozent); so etwa wenn sich in einem Gerangel ein Schuss löst oder eine Person von einem Querschläger getroffen wird.
Bewaffnung der Erschossenen und verletzte Polizisten
Der Großteil der Erschossenen war mit mindestens einer Stichwaffe (Messer, Schwert, ...) oder Feuerwaffe (Pistole, Gewehr, ...) bewaffnet (Kreisgröße). In den vergangenen Jahren ist dieses Verhältnis deutlich in Richtung der Stichwaffen gekippt: Seit 2009 waren 46 Erschossene mit Stich- und nur 14 mit Feuerwaffen bewaffnet. Die Gefahr für Polizisten, verletzt zu werden, ist bei Feuerwaffen größer. So sind in den erfassten 77 Fällen mit Feuerwaffen 35 Mal Polizisten verletzt worden (blau).
Verletzte und getötete Polizisten
In einem Viertel aller Fälle gibt es Angaben darüber, dass auch Polizisten verletzt wurden. Dies geschah insgesamt 69 Mal und reicht von leichten Blessuren bis hin zu acht Todesfällen. Fünf Mal allerdings wurden Polizisten dabei von ihren eigenen Kollegen erschossen – aus Versehen oder weil sie von den Beamten nicht als verdeckte Ermittler erkannt wurden.
Waren Sonderkommandos beteiligt?
In den meisten Fällen sind es Polizisten im normalen Streifendienst, die Gebrauch von ihrer Schusswaffe machen. In weniger als jedem fünften Fall sind allerdings Spezial-Einsatzkräfte vom SEK oder MEK für die tödlichen Schüsse verantwortlich.
Erschossene im Jahresverlauf
Die meisten Menschen werden im Dezember erschossen. Die höchsten Ausschläge stehen für vier Todesfälle am jeweiligen Tag. Hier spiegelt sich wider, dass besonders viele Menschen in der Weihnachtszeit unter einem besonderen psychosozialen Druck stehen.
Die klassische Western-Vorstellung von bewaffneten Räubern, die in einem Gefecht mit den Ordnungshütern ihr Leben verlieren, hat mit der Realität nur wenig zu tun. Wer in Deutschland von Polizisten erschossen wird, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit psychisch krank oder befindet sich zumindest in einer akuten psychischen Ausnahmesituation. Auch die Folgen von Drogenmissbrauch spielen eine nicht unwesentliche Rolle. Es trifft Menschen, die in Stresssituationen nicht mehr adäquat reagieren können, manchmal auch solche, die ihren Tod bewusst provozieren.
Insbesondere seit Ende des vergangenen Jahrzehnts mehren sich Hinweise auf psychische Erkrankungen der Erschossenen. Die Recherche der taz zeigt: Zwischen 2009 und 2017 verloren 74 Menschen durch Polizeischüsse ihr Leben; bei 38 von ihnen, etwas mehr als der Hälfte, fanden sich Hinweise auf psychische Erkrankungen. In vielen Fällen bleibt der Gesundheitszustand der Opfer im Nachhinein ungeklärt; die eigentliche Zahl dürfte also höher liegen. Ihnen gegenüber stehen nur 16 Fälle, in denen von einem „gewöhnlichen“ kriminellen Hintergrund ausgegangen werden kann, sich etwa Verdächtige einer Festnahme entziehen wollten. Thomas Feltes, Kriminologe von der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit polizeilichem Handeln und den davon Betroffenen.
taz: Herr Feltes, der Anteil der Opfer mit einer psychischen Erkrankung ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Woran liegt das?
Thomas Feltes: Es gibt immer mehr Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, und sie werden – zum Glück – nicht mehr so rigide weggesperrt wie früher. Dazu kommt die Vereinzelung in der Gesellschaft: Zunehmend fehlt ein Umfeld, das diese Menschen sozial auffangen könnte. Auch der Drogenkonsum hat sich gewandelt. Überdosierungen und verunreinigte Drogen können dazu führen, dass Menschen nicht mehr rational agieren und nicht ansprechbar sind. Mit verändertem oder repressiverem Verhalten der Polizei haben die steigenden Zahlen wohl eher nichts zu tun.
Wie können Polizisten erkennen, dass Menschen in einer psychischen Extremsituation sind?
Es gibt Kriterien, anhand derer man „ungewöhnliches“ Verhalten einordnen kann, auch wenn in wenigen Sekunden keine richtige Diagnose möglich ist. Desorientierung, überschießende Aggressivität oder Verwirrtheit sind Hinweise auf psychische Probleme.
Wie sollten Polizisten in solchen Situationen reagieren?
Am wichtigsten ist es zu klären, ob eine unmittelbare polizeiliche Handlung überhaupt notwendig ist: Besteht tatsächlich eine unmittelbare Gefahr für andere oder die betreffende Person, die nur durch Schusswaffengebrauch beendet werden kann? Wenn das nicht der Fall ist, darf es nur darum gehen, die Lage so zu stabilisieren, dass von der Person keine unmittelbare Gefahr ausgeht. Die Polizisten können sich zurückzuziehen, Abstand halten und die Person nicht unter Druck setzen. Ein Hauptproblem besteht in vielen Fällen allerdings darin, dass Polizeibeamte ein Problem unbedingt selbst und sofort lösen wollen, ohne geeignete Fachleute zurate zu ziehen. Psychisch gestörte Menschen mit gezogener Waffe zu konfrontieren, Pfefferspray oder gar Hunde gegen sie einzusetzen, führt unweigerlich zur Eskalation der Situation.
Was müsste sich bei der Polizei ändern?
In den Einsatzzentralen sollte es Listen von Psychologen und Psychiatern geben, die man zum Einsatzort rufen kann, sobald es einen Verdacht auf eine psychische Erkrankung gibt. Entsprechende Notfalldienste gibt es in allen größeren Städten. Zudem muss den Polizeibeamten das notwendige Grundwissen über psychische Erkrankungen und den richtigen Umgang damit vermittelt werden. In der Ausbildung wird das Thema zwar angesprochen, aber es fehlen entsprechende Fortbildungsmaßnahmen.
Und was, wenn es schon zu spät ist?
Jeder Fall, in dem eine psychisch kranke Person Opfer von Polizeigewalt wird, muss durch unabhängige Ombudsleute oder Polizei-Beschwerdestellen aufgearbeitet werden – nicht nur polizeiintern. Wenn Fehler passiert sind, müsste Schadensersatz gezahlt werden, wie es in den USA regelmäßig der Fall ist. Das würde auch dem Ansehen der Polizei zugutekommen.
Gibt es innerhalb der Polizei ein Problembewusstsein dafür, dass so viele psychisch Kranke erschossen werden?
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Polizei die Bedeutung des Problems wirklich realisiert. Sie tendiert eher dazu, ihr Handeln zu rechtfertigen und Fehler herunterzuspielen oder gar zu vertuschen. Mit der Begründung, in Notwehr gehandelt zu haben, wird der Einsatz dann legitimiert. Dabei wird die eigentliche Notwehrsituation oftmals erst durch den Polizeieinsatz ausgelöst. Die interne Aufarbeitung dringt auch nicht nach außen, dabei würde auch diese dem Ansehen der Polizei mehr nutzen als schaden.
Die meisten der Erschossenen waren nicht mit einer Schusswaffe, sondern mit einem Messer bewaffnet. Polizisten wird beigebracht, dass von einem Messer die größte Gefahr ausgeht. Zu Recht?
Ja. Einen Schuss kann man zumeist leichter überleben als einen tiefen Messerstich. Zudem sind Messer praktisch immer griffbereit, und man kann sich nur schwer dagegen schützen, wenn man der Person zu nahe kommt. Es genügt häufig schon, Abstand zu gewinnen, um die Situation zu beruhigen. Dann kann man psychologische Unterstützung anfordern und gegebenenfalls auch ein Spezialeinsatzkommando.
Braucht die Polizei eine andere Bewaffnung?
In Berlin werden jetzt Taser getestet, also Elektroschockpistolen. Ich halte diese für vollkommen ungeeignet, nicht nur, aber besonders im Umgang mit psychisch kranken Personen. Der Umgang mit dieser Waffe erfordert ein hohes Maß an Training. Taser sind außerdem, ebenso wie Pfefferspray, tödliche Waffen, wenn sie falsch oder bei Personen eingesetzt werden, die entsprechende Vorerkrankungen haben, die man nicht erkennen kann. Die Polizei braucht keine anderen Waffen, sondern fachübergreifende Unterstützung und Fortbildung.
Kampf um Aufarbeitung: Der Fall Eisenberg
Der Regensburger Student Tennessee Eisenberg wird von der Polizei erschossen. Ganze zwölf Kugeln treffen ihn. Seine Familie will, dass die genauen Todesumstände aufgeklärt werden. Wie weit würden Sie an ihrer Stelle gehen?
Am 30. April 2009 wählt Tennessee Eisenbergs Mitbewohner den Notruf der Regensburger Polizei. Er schildert, wie er von Eisenberg mit einem Messer bedroht wurde, ehe es ihm gelang, aus der Wohnung zu flüchten. Zudem habe Eisenberg, ein 24-jähriger Musikstudent, damit gedroht, sich umzubringen.
Vier Einsatzwagen mit insgesamt acht Beamten fahren daraufhin in die Schwandorfer Straße 11. Eisenberg öffnet die Tür und tritt mit einem Küchenmesser heraus. Er zwingt die Polizisten die Treppe hinunter in den Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses. Die Beamten fordern ihn auf, das Messer beiseitezulegen. „Ja, dann schießt doch“, soll Eisenberg geantwortet haben.
Die Beamten setzen Pfefferspray und Schlagstock ein, doch sie schaffen es nicht, den psychotischen Mann zu überwältigen. Nachdem Eisenberg einen Polizisten in eine Ecke gedrängt haben soll, gibt dieser zunächst einen Warnschuss ab, dann zielt er auf den Körper. Eisenberg wird mehrfach getroffen.
Der Schütze und die weiteren Beamten verlassen das Gebäude, wobei einer seine Waffe verliert. Nur ein letzter Polizist, der jahrelang für die bayerische Spezialeinheit USK arbeitete, befindet sich noch im Eingangsbereich. Er schießt erneut. Tennessee Eisenberg treffen 12 der insgesamt 16 abgegebenen Schüsse. Er verstirbt am selben Tag im Krankenhaus.
Sechs Stunden nach dem Vorfall werden die Zeugenaussagen der beteiligten Beamten aufgenommen, die beiden Schützen verweigern die Aussage. Polizei und Staatsanwaltschaft argumentieren mit einer unmittelbaren Gefahr für ihren Beamten, die in Notwehr gehandelt hätten. Fünf Tage später wird die Leiche von der Staatsanwaltschaft Regensburg zur Bestattung freigegeben.
Eisenbergs Familie und ihr Anwalt sind davon überzeugt, dass auch der letzte Schütze gefahrlos das Haus durch die offen stehende Tür hätte verlassen können. Der Anwalt sagt: „Die Aussagen der Polizisten weichen in wichtigen Fragen entscheidend voneinander ab. Es bestehen heftige Zweifel an der behaupteten Notwehrsituation.“
Was soll Eisenbergs Familie nun tun? Versetzen Sie sich in die Lage der Angehörigen und entscheiden Sie, wie Sie vorgehen würden.
Die Befugnisse der Polizei zur Gefahrenabwehr sind in den Polizeigesetzen der Bundesländer bestimmt. Seit den 1970er Jahren wurde in vielen Landesgesetzen eine ausdrückliche Befugnis zum tödlichen Schusswaffeneinsatz verankert. So heißt es im bayerischen Polizeiaufgabengesetz: „Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist“ (Art. 66, 2).
Nur wenige Länder wie Berlin haben in ihren Landesgesetzen keine derartige Regelung. Erlaubt ist dort aber, einen Angreifer „angriffs- oder fluchtunfähig” zu machen – was im Einzelfall auch durch einen tödlichen Schuss erfolgen kann.
Warum werden die Polizeibeamten nicht verurteilt?
Vor allem können sich Polizeibeamte stets auch auf die allgemeinen Regeln der Notwehr aus dem Strafgesetzbuch berufen. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) 2004 entschieden. Die meisten Landesgesetze sehen dies aber ohnehin ausdrücklich vor, so auch die Gesetze von Bayern und Berlin.
Nach der BGH-Rechtsprechung zur Notwehr kann der Angegriffene das Abwehrmittel wählen, „das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet”. Der Angegriffene muss also nicht flüchten, auch wenn dies möglich wäre, sondern darf sich aktiv verteidigen. Das mildeste Mittel muss er nur wählen, wenn für eine derartige Auswahl genügend Zeit ist. Der Polizist darf hierbei auch seine Dienstwaffe einsetzen.
In einem BGH-Fall von 2004 zielte der Polizist nach eigenen Angaben auf die Beine des Angreifers, der ihn mit Pflastersteinen bewarf. Weil der Polizist die Waffe leicht verzog und der Angreifer sich bückte, traf der Schuss diesen tödlich in den Rücken. Auch diese Folge war laut BGH aber noch gerechtfertigt, denn damit habe sich das „mit der Notwehrhandlung verbundene typische Risiko“ verwirklicht.
Obwohl also die Notwehrregeln in der Regel für die Polizisten günstiger sind als die Regeln des finalen Rettungsschusses, begrüßen es Polizeiverbände, wenn der Rettungsschuss im Polizeigesetz verankert wird. Angeblich schaffe dies „Rechtssicherheit“. Und für die Politik ist die Einführung einer solchen Regelung meist ein Law-and-Order-Signal, obwohl sich faktisch nichts ändert. Umgekehrt ist es genauso symbolisch, wenn einzelne Länder auf eine Regelung zum Rettungsschuss verzichten.
Rund zehn Erschossene pro Jahr sind nicht genug. Nicht genug, um innerhalb der Polizei oder der Öffentlichkeit eine ernsthafte Debatte zu entfachen. Die meisten Toten verschwinden in den Meldungsspalten der Zeitungen und tauchen erst als Ziffer in der jährlichen Statistik der Deutschen Polizeihochschule wieder auf. Kein Fall, der etwas verändert; keiner, der die strukturellen Probleme offenbart. Dabei sind Fehler vor der Schussabgabe die Regel. Jeder Tote ist einer zu viel.
Polizisten wollen Bedrohungssituationen unmittelbar lösen und potenzielle Angreifer unschädlich machen. Diese Herangehensweise ist menschlich nachvollziehbar, doch in Fällen von polizeilichen Todesschüssen bedarf sie einer kritischen Prüfung. Denn die Mehrheit der Erschossenen ist psychisch krank oder akut verwirrt. Sie befindet sich in Ausnahmesituationen, denen mit der polizeilichen Logik, Stärke zu beweisen, nicht adäquat begegnet werden kann.
Der Psychiater Asmus Finzen schreibt über das Verhalten eines psychisch Kranken: „Weil er von seiner Verfolgungsangst, seinem Wahn oder seinen Halluzinationen getrieben ist, kann er bei der Konfrontation mit der Polizei auch nicht reagieren wie ein ‘gewöhnlicher’ Straftäter. Die Aufforderung, die Waffe fallen zu lassen, verstärkt seine Angst.“ Stellt eine Person keine unmittelbare Gefahr für sich oder andere dar, müssten Polizisten beruhigend einwirken und vor allem: Abstand halten. Beides gehört nicht zum Standardrepertoire von Polizisten, erst recht nicht, wenn sie sich selbst bedroht fühlen.
Dabei ist es nicht so, dass die Polizei das Thema ignoriert. Der Umgang mit psychisch kranken Menschen gehört zur Polizeiausbildung. In Hamburg etwa, wo Polizisten gemessen an der Bevölkerungszahl am häufigsten zur Waffe greifen, sind 30 Stunden dafür vorgesehen. Den werdenden Beamten werde dabei ein „praktisches Handlungskonzept“ mit auf den Weg gegeben, heißt es auf Anfrage.
Doch Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg, sagt: „Es fehlt, das in der Ausbildung erworbene Wissen auch anzuwenden.“ Notwendig wäre laut Behr deutlich mehr praktisches Training im Umgang mit Menschen in psychotischen Zuständen nach der Grundausbildung: Bewegungsabläufe, Rollenspiele, das Einüben von Situationen, in denen man nicht schießen darf oder auf Abstand bleiben muss. Das ist nicht immer ohne Risiko, deshalb plädiert Behr dafür, die Schusswaffeneinsätze aus der Vergangenheit nachzubereiten, um Handlungsalternativen entwickeln zu können. Dies geschieht nämlich nicht. Stattdessen wird nur gefragt, ob das Handeln juristisch zu beanstanden war oder nicht.
Um die Beamten, die auf den Straßen unterwegs sind, zu trainieren, müssen Multiplikatoren ausgebildet werden, die den Kollegen vermitteln, wie man mit psychisch kranken Menschen umgeht, so Behr. Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum empfiehlt darüber hinaus eine externe Lösung mit Psychologen und Psychiatern. In Notfällen und bei Verdacht auf eine psychische Erkrankung könnten diese direkt zum Einsatzort gerufen werden. Die alltäglichen Erfahrungen der Psychiatrie mit aggressiven Personen müssen für die Polizei nutzbar gemacht werden.
Die in immer mehr Bundesländern eingesetzten Elektroimpulswaffen, sogenannte Taser, lösen dagegen die Probleme nicht, darin sind sich die meisten Experten einig. Denn auch Taser sind potenziell tödliche Waffen. Ihre Anwendung ist nicht nur schwierig, sondern auch risikoreich, das wird von den Polizeigewerkschaften gern verschwiegen. Behr kritisiert: „Auf dem Gebiet der Überwältigungstechnologie wird traditionell wenig Fantasie entwickelt, um nichtletale Waffen zu entwickeln.“ Dabei wären Waffen, die die Energie eindämmen, durchaus denkbar, etwa durch Schall oder Schaum, die bewegungsunfähig machten.
Solange es diese nicht gibt, ist es nötig, dass die Polizisten ihre Fähigkeit, zu schießen, aufrechterhalten können. Marode Schießstände, etwa in Berlin, sind da hinderlich. Für Behr ist das dennoch zweitrangig: „Vor allem geht es um Alternativen zum Schießen.“ Optimistisch ist er jedoch nicht: „Polizisten wird in der öffentlichen Diskussion immer mehr Gewalteinsatz gestattet, die Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber dem polizeilichen Schusswaffeneinsatz nimmt deutlich ab.“
Widerstand von Polizeigewerkschaften
Ein Mittel um mögliche Missstände anzugehen, wären unabhängige Polizeibeschwerdestellen oder Ombudsleute. Bei Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen oder Tötungsdelikten könnten sie eigenständig ermitteln und gleichzeitig die offiziellen strafrechtlichen Ermittlungen überwachen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International fordern dies schon seit Jahren.
Die Konzepte für Beschwerdestellen liegen vor, doch die Diskussion in den Bundesländern kommt kaum voran, zu groß ist der Widerstand von Polizeigewerkschaften und Parteien wie CDU und SPD. Dabei wären unabhängige Ermittlungsstellen eine wichtige Voraussetzung, um Fehler umfassend zu analysieren – und damit eine Grundlage für Verbesserungen. Solange aber die Bereitschaft dazu fehlt, stehen die Aussichten schlecht, nicht weiterhin alle fünfeinhalb Wochen einen Erschossenen beklagen zu müssen.
Quellen
Die zusammengetragenen Fälle stützen sich auf unterschiedliche Quellen. Seit 1976 veröffentlicht die Deutsche Hochschule der Polizei im Auftrag der Innenministerkonferenz jährlich die Zahl polizeilicher Schusswaffeneinsätze und ihrer Opfer, ohne Daten oder genauere Umstände zu nennen. Nicht erfasst werden dabei seit 1983 jene Todesfälle, bei denen von einer unbeabsichtigten Schussabgabe ausgegangen wird. Detaillierte Auskünfte mit Fallbeschreibungen wurden mitunter bei den Innenbehörden der Länder oder den zuständigen Staatsanwaltschaften abgefragt. In den meisten Fällen wurden sie Presseberichten entnommen.
Das Bürgerrechtsmagazin Cilip veröffentlicht seit 1976 einen jährlichen Bericht über die Todesopfer, in dem all die Kriterien zusammengetragen werden, die auch diese Sammlung beinhaltet. Bis zum Jahr 2001 stützt sich die taz-Zählung hauptsächlich auf diese seit jeher von Otto Diederichs aus Presseberichten gesammelten Daten. Für einige wenige Jahre konnte die taz-Sammlung noch zusätzliche Fälle zutage fördern. Eine dritte, weniger minutiöse Sammlung findet sich bei Clemens Lorei, Professor an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung, auf der Seite schusswaffeneinsatz.de.
Datenqualität
Die Situationsbeschreibungen stützen sich in nahezu allen Fällen auf Berichte aus der Presse. Ein Großteil der Artikel beinhaltet jedoch keine eigene Recherche, sondern gibt wieder, was Polizei und Staatsanwaltschaften verlautbaren. Es ist davon auszugehen, dass viele Zusammenfassungen die Geschehnisse nur unzureichend wiedergeben oder zu einem späteren Zeitpunkt, etwa durch Gutachten, in bestimmten Punkten revidiert wurden. Eine umfassende Recherche zu sämtlichen Entwicklungen in den einzelnen Fällen hätte den Rahmen dieses Projekts gesprengt.
Vollständigkeit
Gesammelt wurden alle Fälle seit dem 1. Januar 1990, inklusive eines Falls auf dem Gebiet der damals in Auflösung befindlichen DDR. Eine weiter zurückreichende Recherche hätte dem Anspruch auf Vollständigkeit nicht mehr gerecht werden können. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass die hier aufgelisteten Todesfälle nicht vollständig sind. So liegt die offizielle Statistik der Polizei in den Jahren 1992 und 1993 jeweils einen Fall über dieser Sammlung – ein Abgleich war vonseiten der Polizei nicht möglich. In zwölf Jahren allerdings übersteigen die Zahlen der taz jene der Polizei. Dies ist wohl vor allem dadurch zu erklären, dass die Polizei unbeabsichtigte Schussabgaben nicht zählt – und diese selbst definiert.
Aufgenommen wurden nur jene Fälle, in denen Polizisten im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben einen Menschen erschossen haben. Dazu zählt auch ein Unfall bei einem Polizeitraining. Der „private“ Dienstwaffengebrauch wird nicht gezählt. Eine Ausnahme ist ein Fall aus dem Jahr 1995. Hier erschoss ein nebenberuflich an einer Tankstelle arbeitender Polizist einen Räuber und handelte demnach nicht aus privaten Motiven. Im Gegensatz zu Cilip verzichtet diese Statistik auf einen Fall aus dem Mai 1993, bei dem ein Polizist außerhalb seiner Dienstzeit einen Lokalgast erschoss. Hinweise, dass er damit auf eine Straftat reagierte, gibt es nicht. Auch der 1993 in Bad Kleinen ums Leben gekommene RAF-Terrorist Wolfgang Grams findet sich nicht in dieser Liste; die genauen Umstände seines Todes sind bis heute nicht geklärt, die Staatsanwaltschaft geht von einem Suizid aus.
Recherche und Text: Erik Peter | Visualisierung und Produktion: Svenja Bednarczyk | Foto: dpa
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Diesen Weg sind auch die Eisenbergs gegangen.
Am 14. Juli 2009 wird die Leiche ein zweites Mal obduziert. Zwei Monate später legt der von der Opferfamilie bestellte und durch Spenden finanzierte Privatgutachter sein Gutachten vor. Es unterscheidet sich in wesentlichen Punkten vom Bericht des Landeskriminalamtes München. Der Gutachter kommt er zu dem Schluss, dass Eisenberg die vier tödlichen Brusttreffer erst am Ende des Polizeieinsatzes erlitten hat, als er bereits „ein zerschossenes Kniegelenk, einen durchschossenen Oberarmknochen, einen Steckschuss in der Lunge sowie weitere Treffer an den Extremitäten“ erhalten hatte. Eisenberg stellte damit keine unmittelbare Gefahr mehr für den Schützen dar, der sich als letzter der Polizisten im Haus befand und dieses durch die offene Eingangstür hätte verlassen können. Die Zeugenaussage eines beteiligten Beamten stützt das Privatgutachten. Demnach habe der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab nicht aus Notwehr gehandelt.
Die Staatsanwaltschaft erklärt dagegen, dass Eisenberg trotz eingeschränkter Mobilität in der Lage gewesen wäre, innerhalb von Sekundenbruchteilen den Polizisten zumindest schwer zu verletzen. Zudem habe einer der Polizisten seine Waffe in Eisenbergs Reichweite verloren. Der Schütze, der sich zu diesem Zeitpunkt allein im Treppenhaus befand, habe den Eindruck gehabt, Eisenberg habe dies bemerkt.
Kurz vor Weihnachten stellt die Regensburger Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen die zwei Polizeibeamten ein. Der Einsatz der Schusswaffen sei geboten und damit gerechtfertigt gewesen.
Was sollen Eisenbergs Angehörige nun tun?
Der Anwalt der Familie Eisenberg legt Ende Februar 2010 eine Beschwerde gegen die Einstellung bei der Generalstaatsanwaltschaft in Nürnberg ein.
In ihrer Erklärung heißt es: „Die Staatsanwaltschaft stellt im Rahmen der Einstellungsverfügung wichtige Tatsachen willkürlich, nämlich im Gegensatz zu den Ermittlungsergebnissen dar.“ So seien sowohl die „Ergebnisse der ballistischen Untersuchung“ als auch einzelne Zeugenaussagen „völlig ignoriert“ worden. Es sei ungewöhnlich, dass belastende Spuren und Zeugenaussagen vernachlässigt würden und die „Staatsanwaltschaft ausschließlich den Verteidigererklärungen des Beschuldigten“ folge.
Bei einer Anhörung im bayerischen Landtag beharrt CSU-Innenminister Joachim Herrmann auf dem Standpunkt, dass den beteiligten Beamten strafrechtlich nichts vorzuwerfen sei. Zugleich räumt er taktische Fehler ein, da kein Einsatzleiter vor Ort gewesen sei. Unterdessen wird der Fall im Human Rights Report 2009 als möglicher Verstoß gegen das Recht auf Leben aufgeführt.
Ende März 2010 lehnt die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg die Beschwerde ab und erklärt die Verfahrenseinstellung für rechtes.
Was sollen Eisenbergs Angehörige tun?
Tatsächlich geben die Eisenbergs nicht auf. Ende April 2010 stellen die Anwälte der Familie den Antrag auf ein Klageerzwingungsverfahren.
Bei einer zweiten Demonstration in Regensburg fordert hunderte Menschen die lückenlose Aufklärung des Falls. Für den Leitenden Oberstaatsanwalt in Regensburg, Günther Ruckdäschel, geht es derweil einen Schritt auf der Karriereleiter nach oben. Er wird von der bayerischen Justizministerin zum neuen Präsidenten des Landgerichts Regensburg berufen.
Mitte Oktober 2010 lehnt das Oberlandesgericht Nürnberg den Antrag auf Klageerzwingung ab, da kein genügender Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage geboten sei. Eisenbergs Anwälte kritisieren, das Gericht habe in seiner Entscheidung darauf abgezielt, Eisenberg als Irren darzustellen, der die Polizisten immer wieder aufgefordert habe zu schießen.
Was sollen Eisenbergs Angehörige nun tun?
Ja, die Eisenbergs ziehen nach Karlsruhe.
In ihrem Auftrag legen November 2010 drei bundesweit renommierte Strafrechtler beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens ein. Sie beklagen, dass die Anklageverweigerung durch das Oberlandesgericht Nürnberg eine krasse und willkürliche „Fehlentscheidung“ sei, die Grundrechte verletze und dem Rechtsstaatsprinzip nicht genüge.
Fast vier Jahre später, am 15. Juli 2014, stellt die 1. Kammer des Zweiten Senats fest, das Oberlandesgericht habe sich detailliert mit den Ermittlungsergebnissen auseinandergesetzt. Dabei seien weder lückenhafte noch tendenziöse, auf die Schonung der beschuldigten Beamten ausgerichtete Ermittlungen erkennbar geworden. Die Verfassungsbeschwerde der Eltern Eisenbergs wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Was sollen Eisenbergs Angehörige nun tun?
Den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen die Angehörigen nicht mehr. Nach mehr als fünf Jahren Kampf mit dem Recht und um Gerechtigkeit gibt die Familie auf.
Die beteiligten Polizisten kommen ohne Prozess davon. Der Tod Tennessee Eisenbergs wird nie endgültig aufgeklärt.
Tennessee Eisenbergs Familie hat den anderen Weg gewählt. Möchten Sie sehen, wie es weitergeht?
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